Mittwoch, 1. Januar 2014

Gedanken und Kommentare

Möllemann, die Zweite: Die Geschichte vom Stehaufmännchen, als das er sich später erweisen sollte
 
Ein Karriereknick

1984 / Im trüben politischen Alltag der Bundesrepublik gibt es immer wieder Vorgänge, die Hoffnung machen. Gestern war es wieder einmal soweit. Jürgen Möllemann, eine der unerfreulichsten Figuren der Bonner Szene, hat auf die FDP-Spitzenkandidatur für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verzichtet - mußte verzichten, nachdem seine Parteifreunde ihn schier vor die Tür gebrüllt haben.

Die Wut auf Möllemann kommt spät, aber sie kommt zu Recht. Dieser Mann war einfach eine Zumutung. Hechelndbetrieb er seine Karriere, Loyalität zu Hans-Dietrich Genscher geriet ihm zur Unterwürfigkeit, Fleiß zum Sprücheklopfen. Prinzipienverwechselte er mit Werbespots, Politik mit den Aufgaben einer Public-Relations-Agentur. Ob er zudem - wie der „Spiegel" behauptet - sein Amt als Staatsminister im Außenministerium mit persönlichen Geschäften verquickte, mag dahingestellt sein - zuzutrauen wäre es ihm. Dafür sprechen auch seine äußerst konfusen Verteidigungsbemühungen.

Es war höchste Zeit, daß die FDP diesen windigen Aufsteigertyp gestoppt hat, der sich überhaupt nur so lange halten konnte, weil Genscher ihn als Ausputzer (miß)brauchte und manche in der Partei glaubten, ein Schnurrbart im Nadelstreifenanzug bürge für Qualität. Bleibt zu hoffen, daß der Karriereknick nur der Anfang vom endgültigen Ausscheiden Möllemanns aus der Politik ist. Opportunisten seines Schlages sollen ihr Geld anderswo ver- 1984 dienen.

Für die FDP wird es schwierig sein, einen Nachfolger zu finden, denn bisher zeigt niemand Lust, sich in Nordrhein-Westfalen die Finger zu verbrennen. Die Chancen bei der Landtagswahl sind denkbar schlecht. Aber selbst der weithin unbekannte ehemalige Regierungspräsident von Düsseldorf, Achim Rohde ist besser als „Riesenstaatsmann Mümmelmann", wie Strauß einst den in ein Luftloch geplumpsten Hobby-Fallschirmspringer titulierte.




Minister Krause: Konnte nachts gut singen und hatte tagsüber eine gut absetzbare Putzfrau

Aggressiv und wehleidig

1991 / Minister Krause redet sich um Kopf und Kragen. Zuerst wirft er dem Schalck-Untersuchungsausschuß Mafia-Methoden vor. Eine ungeheuerliche Unterstellung. Wenig später ist alles wieder ganz anders. Er habe nicht den Ausschuß treffen wollen, sondern das „Vorfeld" mit Berichten über das angebliche Saufgelage des Ministers mit seinen drei Staatssekretären. Die neue Version ließ er durch seinen Pressesprecher verbreiten. Provinzieller geht es nicht mehr.

Wird jetzt auch gutwilligen Beobachtern klar, daß der Verkehrsminister eine Fehlbesetzung ist? Der Ziehsohn Helmut Kohls hat bisher fachlich keine Bäume ausgerissen. Krause redet nur gern weitschweifig daher, gelegentlich mit einem Unterton, der frösteln läßt. Hinter dem martialisch-peinlichen Auftreten verbirgt sich Unsicherheit. In Bonn hat das einstige Sternchen am CSU-Himmel nämlich keine Freunde mehr. Selbst der Kanzler geht auf Distanz. In den neuen Bundesländern kommt Krause sowieso nicht an. Seine rüde Art erinnert die Menschen dort allzugut an die Umgangsformen im alten Regime.

Daß Krause wegen des „Saufgelages" ein solches Trara macht, zeigt zudem seine Ehrkäsigkeit. Dabei wäre es eine Erleichterung zu hören, der griesgrämige Krause habe einmal über die Stränge geschlagen. Stimmt der Vorwurf nicht oder nur halb, dann ist die Reaktion des Ministers völlig unangemessen. Oder weiß Krause nicht, wie in Bonn an Stühlen gesägt wird? Mit Hurra sind solche Aktionen nicht abzublocken. Dabei ist Krause - er nimmt es nur noch nicht zur Kenntnis - schon ins zweite Glied gedrängt. Gerade Kohl ist für geschmeidige Schadensbegrenzung. Das Gedröhne seines Kabinettskollegen wird ihm ebenso mißfallen wie den Mitarbeitern im Verkehrsministerium. Auftrumpfen hat in Bonn noch nie gutgetan, zumal wenn man ein Leichtgewicht vom Schlage Krauses ist.




Schmierenstück par excellence: „Großer Zapfenstreich für General Kießling"

Abschied mit klingendem Spiel

Finster wie der „Fall Kießling" war es gestern abend, als Verteidigungsminister Wörner den Vier-Sterne-General mit allen Ehren in den Ruhestand schickte. Verkniffenen Mundes standen die beiden Männer ein Ritual durch, das das Schmierenstück in einer Apotheose ausklingen ließ. Da wurde einem Manne der Choral „Ich bete an die Macht der Liebe" gespielt, dessen angeblich staatsgefährdendes Liebesleben eine Regierungskrise heraufbeschworen hatte. Da wurde das „Lied der Marburger Jäger" für einen wochenlang Gejagten intoniert, da wurde getrommelt und gepfiffen, da wurden die Helme zum Gebet abgenommen. Krönend erscholl das Deutschlandlied, den Skandal in höhere Sphären hebend, hinauf in den nächtlichen Himmel, wo andere Mächte walten. Fast war's wie in einem ZarahLeander-Film: eine wirre Geschichte endet wunderbar, ganz wunderbar.

Daß General Kießling trotz seiner „Genugtuung" über die pompöse Verabschiedung weiterhin ein „gewisses Maß an Bitterkeit empfindet", ist verständlich. Denn das Schaustück kann nicht vergessen machen, was andere ihm angetan haben: Der superpreußische Staatssekretär („Die Aktenlage war so"), die geschwätzigen Panikmacher, die Wichtigtuer und eben jener leichtgläubige Minister, der sich bis zuletzt an üble Nachreden klammert, um seine Haut zu retten.

Wörner, der den General im ersten Anlauf auf naß-forsche Art zum Pensionär machen wollte, wird sich an den gestrigen Abend 1984 noch lange erinnern. Mit klingendem Spiel eine Niederlage vor aller Augen zelebrieren zu müssen, dürfte selbst dem hartgesottenen Reserveoffizier in die sonst stets durchgedrückten Knie fahren.

Am Donnerstag muß der Gedemütigte noch einmal vor dem Untersuchungsausschuß antreten. Dort bietet sich ihm die letzte Gelegenheit, zu erklären, warum er im Dezember 1983 eine Vereinbarung mit Kießling brach, obwohl ihm keine Tatsachen vorgelegt wurden, die den Sinneswandel begreifbar machen. Doch es ist zu erwarten, daß Wörner darauf beharrt, korrekt gehandelt zu haben. Der Große Zapfenstreich wird ihm dabei noch in den Ohren dröhnen. 



Ein Lehrstück über Moral, Stil und Takt: die „Kießling-Affäre", eine Wörner-Affäre

Das Ende der Geschichte

1984 / Helmut Kohl hat im Wahlkampf mit dem ihm eigenen Augenaufschlag bei jeder sich bietenden Gelegenheit die moralische Wende gefordert. Selbst dem aufmerksamsten Zuhörer blieb allerdings duster, was damit gemeint war. Und rückblickend darf bezweifelt werden, ob Kohl wußte, wovon er redete. Jedenfalls scheint er die Gefahr nicht erkannt zu haben, verblasene moralische Postulate mit den rauhen Anforderungen der Politik zu vermengen. Diese Nachlässigkeit hat ihn jetzt mit dem Fall Wörner/Kießling eingeholt. Die Bundesbürger fragen sich nämlich, wie es einer Regierung der Saubermänner passieren konnte, so in den Sumpf zu geraten.

Die Antwort ist einfach. Sie hat allerdings mit Moral wenig, dagegen mit mangelndem Gefühl für Stil und Takt sehr viel zu tun. Wörner hat mit der überhasteten Entlassung des Generals nicht unmoralisch gehandelt, sondern vorgeführt, daß er kein Herr und nicht Herr der Ereignisse ist. Das ist schlimmer als eine falsche politische Entscheidung je sein könnte.

Der Verteidigungsminister, dessen Tage auf der geliebten Hardthöhe gezählt sein dürften, hat geglaubt, mit strammem Gebaren sei die Krise durchzustehen. Doch sein Kasino-Lachen und sein schier unerträgliches Geschwafel über die Pflicht, Schaden von der Bundesrepublik abzuwenden, wirkten nur peinlich. Da präsentierte sich nicht einer, der Verantwortung für einen in Verdacht geratenen General, für das Ansehen der Bundeswehr und das der Bundesrepublik zu tragen weiß, sondern einer, der den Mut zum Fallschirmspringen mit Führungsqualität verwechselt.

Es kann daher keine Rede davon sein, Wörner sei eigentlich ein fähiger Minister, der nur über Tölpeleien des MAD gestolpert sei. Nein: wer so handelt, wer so selbstgerecht ist und wer unfähig ist, aus einer Panne Lehren zu ziehen, hat in einer Bundesregierung nichts zu suchen. Man stelle sich nur einmal vor - oder lieber nicht? -, auf Wörner wäre eines Tages wirklich eine Krise zugekommen und nicht, wie jetzt, eine nur von ihm selbst heraufbeschworene.

Die Note ungenügend gebührt auch Wörners Pressesprecher Reichardt, der von der irrigen Meinung ausging, er müsse der Affäre einen humorigen Anstrich geben. Sein Bemühen, augenzwinkernd und maliziös lächelnd kumpelhaftes Einverständnis mit den Journalisten der Bundespressekonferenz herzustellen, bestätigte aber lediglich, daß ein Minister die Mitarbeiter hat, die er verdient.

Vom Teufel geritten scheint auch Kanzleramtschef Schreckenberger gewesen zu sein, als er sich dazu hergab, die homosexuelle Skandalnudel Alexander Ziegler gemeinsam mit Wörner zu empfangen. Damit kein Mißverständnis entsteht: es ist nicht unmoralisch, einen homosexuellen Zeugen anzuhören, aber es ist das Niveau von Waschweibern, ausgerechnet dieses Klatschweib auf die Hardthöhe einzufliegen.

Wenigstens beruhigend zu hören, daß dem Kanzler jetzt der Kragen geplatzt sein soll. Man weiß ja, daß bei ihm so etwas lange dauert - das gilt leider auch in diesem Fall. Schon vor zwei Wochen hatte er rückhaltlose Aufklärung gefordert, dann aber wieder alles auf sich beruhen lassen. Kein Wort mehr war von ihm zu hören. Sicher: schweigen ist oft besser als reden, doch einige moralische Wende-Sätzchen hätte man schon erwarten dürfen. Weit gefehlt: Kohl ließ sich mit dem Valentinsorden und einem luxemburgischen Großkreuz schmücken und tat so, als ob ihn das Treiben Wörners nichts anginge. Dabei hätte ihm doch - Moral hin oder her - schon vor der Abreise nach Israel einleuchten müssen, daß der Minister unhaltbar geworden ist. Männertreue ist etwas Schönes, doch in der Politik von begrenztem Wert.

Franz Josef Strauß, Kohls anderer Männerfreund, zeigt in diesen sublimen Verhältnissen ein feineres Gespür. Schon sehr früh ging er in der Affäre Kießling zu Wörner und dessen Chef auf Distanz. Dabei mögen auch politische und personalpolitische Hintergedanken eine Rolle gespielt haben, entscheidender ist aber, daß Strauß mehr aufkorrektes Verhalten hält als jene, die so gern Würde und Anstand bemühen.

Nicht die Moral von, aber das Ende der Geschichte? Wörner geht, Strauß kommt? Das wäre fürwahr eine tolle Wende.



Schwamm und Sekt drüber: Randbemerkungen zu einer jämmerlichen Tragikomödie

Reinemachen beim MAD

1984 / Der Bundeskanzler, so sagt er immer wieder: lasse sich seine Lebensfreude nicht vermiesen. Nach dieser Devise handelte er auch in der Affäre Wörner/Kießling. Er ließ den Verteidigungsminister im Amt, holte den General ins Amt zurück, garnierte das Arrangement mit Ehrenerklärungen und tröstete Herrn Kießling mit einem Gläschen Sekt. Damit sollte aber auch Schluß sein. „Schwamm drüber" hieß die neue Devise. Plötzlich gab man sich ganz fein und warnte, onkelhaft mit dem Kopf wackelnd, vor der Arbeit des Untersuchungsausschusses, der die Hintergründe des Falles ausleuchten soll. Sogar von der Ehre Kießlings war die Rede, die bei weiteren Recherchen (ach wie so heuchlerisch) Schaden nehmen könnte.

Doch man muß dankbar sein, daß es den Ausschuß gibt. Denn dort wird deutlich, welch' miese Rolle der MAD in der Schmierenkomödie gespielt hat. Da fuchtelte General Behrendt mit dem „Chef-Stift" in Akten herum und weiß heute nicht mehr zu erklären, warum er das Wort „Polizeibehörden" gestrichen und durch das Wort „Landeskriminalamt" ersetzt hat. Kein Wunder, daß der Mann sich nach dieser Blamage krank gemeldet hat. Da muß einem ja übel werden.

Auch die anderen Herren, die gestern aufmarschierten, machten eine jämmerliche Figur. Jeder zeigte auf den anderen, keiner will es gewesen sein. Ausgerechnet jene Männer, die darüber wachen sollen, daß zwischen Männern in der Bundeswehr nichts geht, tratschten im Fall Kießling wie Portiersfrauen, und zwar so ausgiebig, bis aus bösen Gerüchten Aktennotizen wurden. Daß in diesem Kuddelmuddel sogar ein Phantombericht zu Schulungszwecken (!) in die Vorlagen rutschte, wen wundert's?

Minister Wörner kann viel gutmachen, wenn er den MAD-Stall ausmistet. Die Vorarbeit, die der Untersuchungsausschuß leistet, ist ihm dabei eine Hilfe.

Also: Nicht Schwamm drüber, sondern Schwämme her und Reinemachen! 



Politik und Militär - am Beispiel Wörner/Kießling
Mündige Soldaten
In der Affäre Wörner/Kießling hat sich die Bundeswehr - vom Soldaten bis zum General - mit Äußerungen peinlich zurückgehalten. Trotz der Unruhe in den Kasernen war kein offizielles Wort der Kritik am Verteidigungsminister zu hören. Die Entscheidung des Bundeskanzlers, Wörner im Amt zu halten, wurde schließlich mit „Respekt" zur Kenntnis genommen.
Dieses Schweigen ist von manchen als Feigheit angeprangert worden. Zu Unrecht, denn
Warnende Beispiele
wie die deutsche Geschichte zeigt, hat die Einmischung des Militärs in die Politik zu nichts Gutem geführt.
Beim Aufbau der Bundeswehr hat man daher - klug geworden - die strikte Trennung gefordert. Generalinspekteur Altenburg tat gut daran, bei der Kommandeurstagung an dieses Prinzip zu erinnern, das allerdings nicht dazu herhalten darf, den Soldaten einen Maulkorb umzuhängenund aus ihnen sture Gefolgsleute jedweder Bonner Politik zu machen.
Die Bereitschaft, die Bundesrepublik zu verteidigen, kann nämlich nur von Soldaten erwartet werden, die politische Zusammenhänge kennen undwissen, wofiir sie notfalls zu kämpfen haben. Die Entscheidung, den Friedensforscher Mechtersheimer oder den Exgeneral Bastian nicht mit Soldaten diskutieren zu lassen, war so gesehen nicht richtig. Eine Bundeswehrführung, die so wenig Vertrauen in die Standfestigkeit ihrer Soldaten hat, beweist Unsicherheit, aus der nur Unbehagen bei der Truppe entstehen kann.
Das Tragen der Uniform bringt sicher besondere Verpflichtungen, darf aber den Bürger, der in ihr steckt, nicht ersticken. Sonst wäre nämlich ein anderes großes Prinzip der Bundeswehr in Gefahr: Das des mündigen Soldaten, der seinen Mund nicht nur zum Kommandieren gebrauchen soll.



Wolfgang Schäuble nach dem Attentat

Ein tapferer Mann

1990 / Von der Vorbildfunktion der Politiker wird gern geredet. Die Betroffenen tun es besonders ausgiebig. Doch meist ist es damit nicht weit her. Wohin man blickt: Schwächen, Eitelkeiten und Wehleidigkeiten. Vielleicht ist es sogar gut so. Der Bürger schätzt es nicht, wenn ihn nur Lichtgestalten regieren. Und der Spruch, daß Geld und Macht allein nicht glücklich machen, ist Balsam für manche Seele.

Nun gibt es allerdings Politiker, die uneingeschränkt Bewunderung verdienen. Einer dieser seltenen Spezies ist Wolfgang Schäuble. Vor sechs Wochen wurde er das Opfer einesAttentates, heute sitzt er schon wieder am Kabinettstisch. Mit dem Begriff des Preußischen wird viel Schindluder getrieben, hier aber trifft er zu. Schäuble nimmt sich im besten Sinn des Wortes in die Pflicht.

Die Sympathien, die ihm allenthalben entgegenschlagen, gelten allerdings nicht nur dem Rekonvaleszenten. Schäuble hat sich schon vor dem Anschlag viele Freunde gemacht. Ein auch bei der Bevölkerung beliebter Innenminister - das kommt so häufig nicht vor. Der Nachfolger Friedrich Zimmermanns hat festgefahrene Positionen wieder aufgelockert, hat etwa in der Ausländerfrage auch die Opposition einbezogen und somit das Klima verbessert. Kein Wunder, daß er sich mit diesen Eigenschaften, zu denennoch eine umfassende fachliche Beschlagenheit kommt, als einer der engsten Berater des Kanzlers etabliert hat. Auch ein Freund ist er ihm geworden. Noch nie hat man Kohl so bewegt gesehen wie nach dem ersten Besuch im Krankenhaus.

Es ist daher nur folgerichtig, daß der Kanzler schon einen Posten fest vergeben hat: Der alte Innenminister soll auch der neue werden. Schäuble hatte vor dem Attentat zwar auf den einflußreicheren Fraktionsvorsitz spekuliert, solange er aber an den Rollstuhl gefesselt bleibt, ist dieses aufreibende Amt von ihm nicht zu besetzen. Bleibt er aber weiter so voller Lebenskraft, ist das Innenministerium bestimmt nicht der Abschluß seiner Karriere.



Bedenkliches über einen Kanzlerkandidaten - nicht ohne Seitenhiebe auf die Gegenseite ...

Oskar, der Trommler
Oskar hier, Oskar da. Stramm reckt er das Kinn in jede Kamera, lächelt als ob ... Der Saarländer, kein Zweifel, ist ein Showtalent. Er hat Tricks auf Lager, um die ihn die vielen grauen Mäuse auf der politischen Bühne nur beneiden können. Obwohl kein dicker Freund der Amerikaner, hat er zumindest das von ihnen gelernt: Wer kräftig trommelt, der wird auch was. Und Oskar Lafontaine will was werden - erst Kanzlerkandidat der SPD, dann Bundeskanzler. Reinhard Klimmt, Weggefährte aus einstigen Juso-Tagen, weiß es seit Jahren: „Oskar entwickelt einenungeheuren Drang nach vorn!"
Ganz schön weit hat er es schon gebracht. Er ist SPD-Parteivize, Geschäftsführender Vorsitzender der Programmkommission und federführendes Mitglied in der Antragskommission für den kommenden Parteitag der Sozialdemokraten. Doch Amt und Würden sind nur ein Teil seiner Machtposition. Lafontaine ist viel zu schlau, sich lediglich als Vor- und Querdenker der Partei hervorzutun. In dieser Stellung sind schon manche vor ihm versauert - man denke nur an Erhard Eppler. Also schmeißt er sich ins öffentliche Getümmel. Mal ist's eine Talkshow, mal eine Buchveröffentlichung oder ein Zeitungsartikel. Mal frühstückt er mit Genscher in New York und juxt sich dann über das Rätselraten, mal plaudert er über seinen angeblich exzellenten Koch. Ist das der Stoff, aus dem Kanzler sind?
Zugegeben, Oskar Lafontaine entwickelt immer wieder nachdenkenswerte Thesen über die Gesellschaft, über die Arbeit, die Sicherheitspolitik und den Umweltschutz. Sogar Konservative ringen sich ein Lob ab. Lothar Späth konstatiert Phantasie und politisches Vorstellungsvermögen, die „Frankfurter Allgemeine", die früher kein gutes Haar an ihm ließ, gerät heute über diesen Mann ins Grübeln. Liegt es an der Qualität oder vielleicht nur daran, daß sich sonst so wenig tut? In der Union ist ja zukunftsweisendes Nachdenken nicht gerade in Mode, auch die FDP wurstelt so vor sich hin. Nach Berlin und Hessen klebt den meisten Koalitionären ein Brett vor dem Kopf. Da hat es einer, der frisch drauflosplaudert, vergleichsweise leicht.
 
Schaut man sich Lafontaines Auslassungen aber genauer an, dann kann es einen auch grausen. Nur zwei Kostproben. In seinem neuesten Buch „Das Lied vom Teilen" heißt es etwa: „Will man, dies gehört zur klassischen Lehre des Sozialismus, daß der Mensch mit seiner Arbeit ein wie auch immer geartetes Bewußtsein von Selbstverwirklichung verbindet, dann wird man die Eigenarbeit vom privaten Rande mehr ins öffentliche Zentrum der Gesellschaft rücken müssen - was nicht heißen muß, daß die Erwerbsarbeit aus dem Zentrum verdrängt wird. 

Eine Aufwertung der informellen Arbeit könnte sehr wohl die Aufwertung der formellen Arbeit bewirken." Verglichen mit diesem Schwulst ist ja die Kohlche Prosa noch ein Labsal. Lafontaine kann aber auch  ganz schlicht schreiben. „Wir Menschen sind lernfähig. Wir sind frei, aufunsere Einsicht die richtigen oder falschen Taten folgen zu lassen", liest man in seinem Buch „Die Gesellschaft der Zukunft". Wer hätte das gedacht. Aber es ist wohl so: Wer solche Platitüden vorträgt, braucht heute Hohn und Spott nicht mehr zu fürchten.
Sicher, Lafontaine wandelt auf schmalem Grat. Der vom Ideologen zum Pragmatiker Gewandelte will seiner Partei das „Projekt Moderne" einpauken, will die Gewerkschaften aus ihren Verklemmungen befreien. Das geht, so wie es mit der Beweglichkeit der SPD und des DGB bestellt ist, nicht ohne Akrobatik ab. Aber Lafontaine übernimmt sich. Vieles wirkt unausgegoren. Denkanstöße ersetzen aufDauer kein schlüssiges Konzept. Zudem ist fraglich, ob die Sozialdemokraten mit einem Populisten gut bedient sind. Die Partei ist nun mal etwas altbacken, was aber auch seine Vorteile hat. Quirligkeit mag chic sein und sich kurzfristig gut verkaufen, langfristig aber zählen das Bohren dicker Bretter und Fingerspitzengefühl auch im Umgang mit weniger emanzipierten Genossen. Sonst könnte es Lafontaine gehen wie Norbert Blüm, dessen flotte Sprüche unterdessen Parteifreunde und Bevölkerung nerven.



Die Hauptstadtfrage vor der Entscheidung

Bonn soll Bonn bleiben

Bonn oder Berlin, Berlin oder Bonn? Die Hauptstadtfrage in einem vereinten Deutschland wird von den Politikern aller Parteien nur noch vorsichtig angeschnitten. Als die Mauer fiel, war das ganz anders. Da schwadronierte jeder drauflos, die tollkühnsten Vorschläge machten die Runde. Auch die Bürger diesseits und jenseits der Grenze sind gelassener geworden. Doch man täusche sich nicht: Die Gefühle pro und kontra sitzen tief Kaum eine Gesprächsrunde über die DDR, die nicht das Thema streifte.

Für beide Städte gibt es Argumente und Gegenargumente in Hülle und Fülle. Es läge nahe, Bonn und Berlin in schöner Ausgewogenheit gegenüberzustellen. Um die Ratlosigkeit nicht noch zu steigern, soll hier dagegen - ausnahmsweise - einseitig argumentiert werden. Für Bonn, so meine ich, spricht viel, für Berlin wenig.

Man könne den Menschen in Mitteldeutschlandnicht auch noch eine Hauptstadt am Rhein zumuten, heißt eines der scheinbar gewichtigsten Argumente. Das Selbstwertgefühl der DDR-Bürger sei zu respektieren, eine allzu offensichtliche Vereinnahmung abzulehnen. Abgesehen davon, daß sich Solidarität und Einfühlungsvermögen jetzt tausendfach auf anderen Gebieten beweisen ließen: Ist denn Ostberlin den Bewohnern der DDR wirklich so ans Herz gewachsen? Steht es nicht auch für Zentralismus, für den Ulbricht- und den Honecker-Staat? Zudem haben sich viele von Rostock bis Dresden über die ständige Hätschelung der DDR-Hauptstadt geärgert. Während etwa Leipzig zusehends verfiel, putzte sich Ostberlin mit Unsummen als Schaufenster heraus. Nicht für alle wäre also Berlin die Stadt mit nur angenehmen Assoziationen.

Gerne wird ins Feld geführt, Berlin sei von der Reichsgründung bis 1945 Hauptstadt gewesen; auch habe man Bonn offiziell immer nur als Provisorium angesehen. Aber hat nicht Bonn längst auch Tradition entwickelt - eine Tradition, die sich sehen lassen kann? Das beispielhafte Grundgesetz wurde dort verabschiedet; die Weichen für einen allgemein anerkannten Sozial- und Rechtsstaat gestellt; die Marktwirtschaft beschlossen, auch steht Bonn für das alles in allem redliche Bemühen, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Dagegen ist Berlin eine Stadt mit auch nationalsozialistischer und in ihrem Ostteil kommunistisch-diktatorischer Vergangenheit.

Bonn ist frei von diesen Belastungen. Ist nicht überhaupt die kleine Stadt mit ihren nüchternen Regierungsbauten - selbst das Kanzleramt wirkt eher bescheiden - die ideale Hauptstadt eines modernen, auf Effektivität bedachten Staates? Alles Brimborium, jeder falsche Schein verbietet sich in dieser im besten Sinne provinziellen Atmosphäre. Kein Grund also, nach dem Ausland zu schielen. Berlin als vergleichbare Metropole neben Paris und London - nein danke. Das politische Zeremoniell an Seine und Themse wirkt doch eher verzopft. Sollen Kanzler und Minister auch hierzulande auf goldenen Stühlchen sitzen und pompös vor säulengeschmückten Gebäuden vorfahren?

Bescheidenheit ist nicht nur eine Zier, sie prägt auch den politischen Stil. Zum Nutzen der Bürger, die vor allem erwarten, daß die Staatskasse gefüllt ist, daß für Sicherheit und Ordnung gesorgt wird, daß Gesetze zügig verabschiedet werden. Für gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Glanz sollen wie bisher die Städte in der Provinz sorgen - München, Hamburg, Frankfurt, Dresden und bald Berlin. Das wäre Föderalismus wie aus dem Bilderbuch. Berlin, dieses seltsam unfertige Gebilde, hat phantastische Möglichkeiten. Ja, man möchte es der Stadt geradezu ersparen, Regierungssitz zu werden. Das schafft nur Zwänge, treibt die Preise zusätzlich in die Höhe, zerstört die Umwelt noch mehr. Berlin verdient Besseres, die Chance nämlich, sich frei von den Anforderungen der Politik ein neues Gesicht zu geben. Ein Gesicht, das ins 20. Jahrhundert paßt.




Von politisch unliebsamen Moderatoren


Höfer und Löwenthal

1987 / Höfer und Löwenthal: zwei verschiedene und doch bezeichnende Beispiele. Der Fall des ZDF-Magazin-Moderators, der heute das letzte Mal auf dem Bildschirm erscheint, wurde zwar in der Öffentlichkeit kaum breitgetreten, ist aber ebenso ein ungutes Beispiel für die Verquickung von Politik, persönlichen Ambitionen, Parteienproporz und Abrechnung unter Kollegen.

Löwenthal, der 65 Jahre alt geworden ist, wäre gern noch länger geblieben. Verbittert spricht er von Zwangspensionierung und wird dabei auch an Werner Höfer gedacht haben, der noch bis vor kurzem trotz seiner 74 Jahre unangefochten die sonntägliche Journalistenrunde leiten durfte. Und gäbe es nicht den „Spiegel" und die lieben Kollegen, Höfer wäre vielleicht tatsächlich mit dem Weinglas in der Hand gestorben, so wie er es sich einmal gewünscht hat.

Die kühl-brüske Behauptung von ZDF-Intendant Stolte, mit 65 sei eben Schluß, das gelte auch für Herrn Löwenthal, ist so gesehen ein fadenscheiniger Vorwand. Nein, der stramm konservative Moderator wird in die Wüste geschickt, weil er einigen seiner einst wohlgesonnenen Freunde nicht mehr ins Konzept paßt. Löwenthal, zu Zeiten der Unions-Opposition ein willkommener Mitstreiter gegen die Deutschland- und Ostpolitik der Regierung Brandt, hat seine Schuldigkeit getan. Heute, da die Regierung Kohl in der Entspannungspolitik dort weitermacht, wo die SPD aufgehört hat, ist ein Mann vom Schlage Löwenthals nicht mehr zu gebrauchen. Seine scharf kritische Auseinandersetzung mit den Zuständen in der DDR und in den anderen Ostblockländern verursacht bei der auf die Mitte und aufs Moderate abzielenden CDU nur noch Bauchgrimmen.

Nicht die Linke hat also Löwenthal abgeschossen, sondern die CDU hat ihn fallengelassen im geölten Zusammenspiel mit dem ZDF-Intendanten und Unions-Sympathisanten Stolte. Ironie am Rande: Ausgerechnet in der DDR gehörte Löwenthals Sendung bis zuletzt zu den Hits des Westfernsehens. Das spricht Bände, und es spricht trotz mancher Entgleisungen Löwenthals für das ZDF-Magazin. Aber gegen den Zeitgeist ist kein Kraut gewachsen.

Noch peinlicher ist allerdings der Fall Höfer. Warum wird dem jahrzehntelang hochgelobten Journalisten auf einmal wegen seiner Vergangenheit ein Strick gedreht - einer Vergangenheit zudem, die längst bekannt war? Wollte sich „Spiegel"-Autor Harald Wieser mit seinem Bericht über den „Nazi-Autor" Höfer nur eine schillernde Feder an den Hut stecken? Manches spricht dafür, aber eine runde Geschichte ergibt sich nicht. Denn seltsamerweise ließ auch die Springer-Presse den Frühschöppner im Stich, und im WDR-Rundfunkrat, wo ja auch die Konservativen ihre Stimme haben, machte sich niemand für Höfer stark.

Wird da von Konservativen späte Vergeltung geübt an einem Liberalen, der einst während der „Spiegel"-Affäre dem Blatt mutig die Stange hielt?

Das Knäuel wird sich wohl erst entwirren, wenn über die Zukunft der populären Sonntagssendung und über die Nachfolge Höfers entschieden sein wird. Sicher aber ist heute schon, daß Höfer übel mitgespielt wird. Aus seiner Verstrickung in die Maschinerie der Nationalsozialisten hat er nie ein Geheimnis gemacht. Doch anders als manche anderen hat er die Irrtümer seiner Jugend bedauert und später in den verschiedensten Funktionen wieder gutgemacht. Mag sein, daß dabei auch Opportunismus im Spiel war, aber dieser Vorwurf träfe dann auch jene, die Höfer jahrelang als ein Aushängeschild des geläuterten Deutschland gebrauchten und die heute plötzlich ihre lupenreine Gesinnung entdecken.

Kein Zweifel, Höfers Nazi-Artikel riechen übel, aber das selbstgerechte Moralisieren seiner Gegner stinkt zum Himmel, zumal sein Geschreibsel von damals seit über 25 Jahren auf dem Tisch liegt. Es wurde also jetzt nichts enthüllt, sondern mit altem Spielmaterial getrickst.

Mit Höfer und Löwenthal wurden zwei engagierte Journalisten aus sachfremden Gründen abgesägt. Das macht ihren Fall zum Skandal, in den Politiker und Fernsehverantwortliche sowie deren Helfershelfer bei verschiedenen Zeitungen verstrickt sind.



Der Golf-Krieg: Ein Fernsehkrieg
Die Macht der Bilder

1991 / Nach dem Golfkrieg mußte sich das Fernsehen manche unangenehme Analyse seiner Berichterstattung gefallen lassen. Sogenannte Experten standen plötzlich als wichtigtuerische Plappermäuler da, viele Voraussagen von Korrespondenten und Moderatoren platzten wie Seifenblasen.
Zur oberflächlichen Kenntnis über die Region kam das gelegentlich ganz bewußteManipulieren. So ist längst bekannt, daß der ölverschmierte Kormoran, der die Menschen hierzulande besonders bewegte, eine „Ente" war. Der unglückliche Vogel stammte aus dem Archivmaterial einer Fernsehanstalt.
Der Zwang, trotz Zensur die stundenlangen Berichte einigermaßen informativ und „unterhaltend" optisch zu gestalten, trug zusätzlich zu dem fragwürdigen Eindruck bei, den das Fernsehen vom Golfvermittelte. Die Diskussion über Nutzen und Gefahren des Mediums wird uns noch lange beschäftigen.
Bei aller berechtigten Kritik gibt es allerdings auch Sternstunden. So wäre die Hilfe der westlichen Welt für die Kurden ohne das Fernsehen kaum denkbar. Die erschütternden Bilder über das Sterben der Kinder, über das Flüchtlingselend in den kalten, verschlammten Bergen Kurdistans haben auch unsere hartgesottenen Wohlstandsgesellschaften bewegt.
Gerade in Amerika, wo die Menschen nach dem Golfkrieg nicht zu weiteren Verwicklungen ihres Landes bereit waren, wo auch das Hochgefühl des Sieges nicht getrübt werden sollte, hat die breite Berichterstattung über das Elend die Wende bewirkt. Washington, das zuerst jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Irak abgelehnt hatte, mußte nun Druck auf Saddam Hussein machen.

In die Kategorie der psychologischen Beeinflussung gehört auch die großzügige Hilfe Bonns. Während sich heute die Ansicht verstärkt, jede Mark, die ins Ausland oder nach Ostdeutschland geht, sei in unzumatbares Opfer, wird die Unterstützugn für die Kurden gern leistet. Die Macht der Bilder hat eben auch ihre guten Seiten.



Deutsche Waffenexporte - Verfaßt ein Jahr vor dem Golfkrieg

Geschäft um jeden Preis?

1990 / Es stinkt gewaltig. Jeden Tag kommen neue Merkwürdigkeiten über die Verbindung deutscher Unternehmen mit der Chemie(waffen)-Fabrik in Libyen ans Tageslicht. Noch vor kurzem behauptete Firmenchef Imhausen keck, er wisse überhaupt nicht, wo Libyen liege. Heute ist so gut wie sicher, daß das Unternehmen tief in den Fall verstrickt ist. Auch andere haben mitgemischt, wobei freilich noch ungeklärt bleibt, ob sie gegen Vorschriften verstoßen haben.

Die Bundesregierung macht ebenfalls keine gute Figur. Denn fest steht jetzt, daß es erste Informationen des Bundesnachrichtendienstes über eine deutsche Beteiligung an der Anlage in Rebta bereits im August 1988 gege­ ben hat. Der Bundeskanzler dürfte also nicht ahnungslos nach Washington geflogen sein, wo man ihm entsprechende amerikanische Er­ kenntnisse vorgehalten hat. Sicher hat er mit seiner Behauptung recht, daß es gerichtsnoto­ rischer Beweise bedürfe, um gegen Firmen vorgehen zu können. Aber warum wischte er die Informationen aus Amerika so brüsk vom Tisch, warum sprach er gar von einer unerträg­ lichen Kampagne? Die deutsche Öffentlichkeit wurde dadurch auf einen Nebenkriegs­ schauplatz geführt. Plötzlich sah es so aus, als ob uns die Amerikaner aus niederträchtigen Motiven am Zeug flicken wollten.

Dieses Gemisch aus Ableugnen, scheinbarer Ahnungslosigkeit und Verschleierung ist leider nicht neu. Daher scheut man sich fast, von einem Skandal zu sprechen. Die Gewöhnung an Filz und Durchstechereien stumpft ab. Nur einige Beispiele für eine Entwicklung, die nach­ denklich stimmt: Kießling-Affäre, Barschel‑

Affäre, Parteispendenskandal. Das setzt sich aufunterer Ebene fort: Korruption in Stadtver­ waltungen, Subventionsbetrügereien, bestech­ liche Zollfahnder und Polizeibeamte. Und die Bürger, die staunend diesem Treiben zusehen? Gilt nicht als dumm, wer seine Steuern ord­ nungsgemäß bezahlt, wer sich nicht da und dort fragwürdige Vorteile verschafft? Die Auf­ regung über die Quellensteuer ist bezeichnend. Die finanz- und wirtschaftspolitische Weisheit der Maßnahme ist umstritten, nicht aber die Tatsache, daß viele bisher den Fiskus beschum­ melt haben und nun über das Ende dieser Möglichkeit empört sind.

Der französische König Louis Philippe hat beim Regierungsantritt 1830 den Bürgern augenzwinkernd zugerufen: Bereichert euch! Das war schamlos, aber ehrlich. Verglichen damit leben wir in einem Klima der Spießbür­ gerlichkeit - hier der moralische Anspruch, dort das Mauscheln unter der Decke.

Kein Zweifel, die Unternehmer müssen Ge­ schäfte machen, die Regierungen ihnen dabei helfen. Aber ist alles erlaubt? Konnte zum Beispiel wirklich nicht verhindert werden, daß deutsche Firmen die Giftgasproduktion im Irak ermöglichten? Ist das deutsche Engage­ ment im Iran wirklich unerläßlich, in einem Land, dessen Regierung ihre Gegner zu Tau­ senden niedermacht? Aber nein: Außenmini­ ster Genscher schließt mit diesen Leuten auch noch ein Kulturabkommen Wobei überhaupt auffällt, wie schweigsam der sonst so Redseli­ ge derzeit ist. In Amerika traut man ihm ja schon seit längerem zu, daß er Exporte um jeden Preis fördert. Auch um jeden politischen Preis. Nur er?

Erschreckt fährt man in Bonn hoch. Von Handlungsbedarf ist wieder die Rede. Doch mit Gesetzen ist wenig auszurichten. Die inter­ nationale Verflechtung und das richtige Prin­ zip eines freien Welthandels machen wirksame Kontrollen so gut wie unmöglich. Daher ist zweifelhaft, ob der Beschluß etwas bringt, die Bestimmungen zu verschärfen und, ähnlich wie beim Export von Nuklearanlagen, auch eine Meldepflicht für chemische Produktions­ anlagenund chemische Grundstoffe einzufüh­ ren. Das ist Kratzen an der Oberfläche. Im Grunde geht es doch um die Frage: Nach welchen Maßstäben wollen wir wirtschaften? Moralinsauer muß man dabei sicher nicht sein. Aber wie wär's mit ein bißchen mehr Stil? Dazu gehört auch der Mut, Fehler und Schlam­ pereien einzugestehen. Unerträglich ist dage­ gen dieses anrüchige Durchwursteln im Ge­ wand der Biedermänner.



Und zwei Jahre später, nach dem Krieg ...

Der Waffenexport

1991 / Jetzt ist wieder die Zeit der guten Vorsätze; der aufrichtigen und der geheuchelten. Nach den Erfahrungen des Krieges will man künftig vieles besser machen. Dazu gehört - wie oft eigentlich noch? - die Absicht, Waffenexporte strenger zu kontrollieren, ja vielleicht sogar abzubauen. Jedermann konnte es jeden Abend am Bildschirm sehen: ohne die Anhäufung gewaltiger Waffenpotentiale durch den Irak wäre das Blutvergießen nicht möglich gewe­sen. Daß auch Deutsche bei der Aufrüstung halfen, hatuns schweren außenpolitischen Scha­den zugefügt, mit dem moralischen Schaden mögen die Schuldigen selbst fertig werden.

Kein Wunder, daß nun allenthalben der Ruf ertönt „Die Waffen nieder, nie wieder Krieg!" Doch die Hoffnung auf eine neue Weltord­nung, in der Konflikte ausschließlich politisch gelöst werden, ist gering. Schon gibt es An­zeichen für eine neue Aufrüstung des Nahen Ostens - mit kräftiger Unterstützung der USA. Präsident Bush hat sich ganz offen gegen eine Pause bei den Waffenlieferungen ausge­sprochen. Andere Länder werden ähnlich verfahren.

In der „Frankfurter Allgemeinen" erschien dieser Tage ein Leitartikel unter der Über­schrift „Es geht auch ohne Rüstungsexporte". Die Lektüre des Artikels dämpfte dann aller­dings die anfängliche Überraschung. In dem konservativen Blatt durften sich nicht plötzlich naive Friedensfreunde ausbreiten, vielmehr ging es dem Autor darum, Grenzen zu ziehen und die windigen Argumente für den Waffenexport anzuprangern.

Es ist in der Tat Klarheit notwendig, wenn die Auseinandersetzung über deutsche Rüstungs­exportpolitik zu etwas führen soll. Pauschale Vorwürfe, wie sie die Grünen vor sich her­tragen, bringen gar nichts. Die „rechtskon­servative Koalition" exportiere den Krieg, wird polemisch behauptet. Die Entlastungsversuche der Regierung - das geht schon seit Jahrzehnten so - sind dürftig. „Wir praktizieren die restrik­tivste Waffenexportpolitik der Welt", heißt es. Doch was in rechtlicher Hinsicht stimmen mag, hält in der Praxis nicht stand. Man erinnere sich nur an die bewußt sehr weit gesteckten Richtlinien eines Franz Josef Strauß, die viele guthießen.

Immer wieder wird zudem die haarsträu­bende Parole bemüht: „Wenn nicht wir, dann machen es eben die anderen." Nein, jeder muß zuerst eigene Grundsätze hochhalten. Im übri­gen ist es ein Täuschungsmanöver, so zu tun, als breche ohne Waffenexporte die deutsche Wirtschaft zusammen. Obwohl die Skandale der letzten Jahre einen anderen Eindruck er­wecken könnten: Das Waffengeschäft hat nur einen sehr geringen Anteil an der wirtschaftli­chen Gesamtproduktion. Die Japaner machen sogar vor, daß man ganz ohne Rüstungs­schmieden auskommen kann. Gehen sie etwa am Bettelstab?

Hierzulande ist die Entwicklung anders ver­laufen. Das hat auch mit unserer Mitglied­schaft in der NATO zu tun und, so seltsam es klingen mag, mit dem Druck unserer Verbün­deten. Über deutsche Waffenexporte empören sie sich ja nur, wenn es ins Konzept paßt oder wenn damit eigene wirtschaftliche Interessen gewahrt werden sollen. Nur ein Beispiel: 1988 stornierte Bonn die Lieferung von Tornado-Bombern an Jordanien. Daraufhin schrieb Margaret Thatcher dem Kanzler einen bitter­bösen Brief, in dem sie die Haltung der Bundes­regierung kritisierte, keine Waffen außerhalb des NATO-Gebiets zu exportieren.

Damit ist ein wichtiges Stichwort gefallen. Rüstungsexporte sollten aufdie Verteidigungs­gemeinschaft beschränkt bleiben. Wichtig ist auch eine klare Unterscheidung zwischen dem Export von Kriegswaffen sowie sonstigen Waffen einerseits und „kriegsgeeigneten" Waffen andererseits. Das gilt auch für jene Anlagen und Erzeugnisse, die man „beidsei­tig" verwenden kann - Fabrikanlagen etwa, die sich zur Herstellung von Dünger oder zur Herstellung von Giftgas eignen.

Die Differenzierungen sind schwierig und mühsam. Unmöglich, wie etwa Graf Lambs­dorff behauptet, sind sie nicht. Sie gelingen allerdings nur, wenn man Waffenexporte nicht grundsätzlich verteufelt und wenn man sie aus der Grauzone herausholt. Das ist in erster Linie Aufgabe der Politik. Sie setzt die Signale, an denen sich die Wirtschaft auszurichten hat.




Frauen beim Militär

Wenn schon, denn schon?

1986 / Sie kämpften im vietnamesischen Dschun­gel, sie zogen mit Mao auf den Langen Marsch, sie unterstützten die Wehrmacht im Krieg und sind auch heute weltweit dabei: Frauen in Uniform, Frauen an der Waffe, Frauen im zivilen Einsatz.

Bundesdeutsche Soldatinnen, heimbewehrt und kampfbeschuht, das ist für die einen erstre­benswert, für die anderen Schreckensvision. Kein Wunder, daß das Thema „Frauen in der Bundeswehr" seit Jahr und Tag immer wieder in der öffentlichen Diskussion aufbrandet.

Den jüngsten Vorstoß kann sich die FDP aufs Banner schreiben. Außenminister Gen-scher höchstpersönlich tat in Bonn vor der verdutzten Presse kund: Frauen sollen „künftig freiwillig und gleichberechtigt in den Dienst der Bundeswehr treten können" - auch zum Dienst an der Waffe. Auf dem Parteitag der Liberalen soll das heiße Eisen angepackt wer­den.

Ein Blick ins Grundgesetz kann da nicht schaden. Dort heißt es in Artikel 12 a, daß Frauen „auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten" dürfen. Lediglich im Verteidigungsfall dürfen sie zu „zivilen Dienstleistungen im Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarett-Organisation" herange­zogen werden. Die Ausnahme: Freiwillig und waffenlos dürfen Frauen in der Bundes­wehrverwaltung oder im Verband der Streit­kräfte - zum Beispiel im Büro- oder Küchen­dienst - schon heute antreten.

Doch so eindeutig die rechtliche Lage auf den ersten Blick erscheint, ist sie nicht. Denn in Artikel 3.2 des Grundgesetzes steht so schön geschrieben: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Darauf berufen sich denn auch die Befürworter des freiwilligen Wehrdienstes für Frauen - leider nicht ohne Heuchelei. Der Lock­ruf, weiblicher Militärdienst diene der Emanzi­pation, überzeugt nämlich kaum. Denn es gibt Bereiche genug, in denen die Politiker - auch die liberalen - für die Gleichberechtigung kämp­fen könnten, ohne daß am Grundgesetz herum­gefummelt werden müßte.

In Wahrheit ist es doch so: Wegen der geburtenschwachen Jahr­gänge fehlen der Armee die Rekruten, um die Sollstärke der Bundeswehr zu halten. Allein deswegen besinnt man sich der Frauen. Als Lückenbüßerinnen sollten sie sich aber nicht hergeben und daher auch nicht auf das faden­scheinige Argument hereinfallen, der Bund biete sichere Arbeitsplätze.

Die Fragen sind ganz andere: Verträgt sich das Bild von der Frau - gerade von der derzei­tigen Regierung als Mutter und Lebens spenderin gezeichnet - mit einer Ausbildung, die das Töten im Ernstfall nicht ausschließt? Besteht die Gefahr, daß Frauen in der Bundes­wehr einen personellen Beitrag zur Aufrüstung bedeuten? Wollen wir den Staatsbürger in Uni­form oder die Uniformierung aller Staatsbür­ger? Bedeutet Gleichberechtigung Gleich­behandlung um jeden Preis - nach dem Motto: wenn schon, denn schon?

Die Bundesrepublik ist das einzige Land der NATO, das die Frauen aus den Streitkräften verbannt. Selbst die in Frauenfragen konserva­tiven Türken erlauben den freiwilligen Dienst. Die Belgier entschieden 1983 sogar, daß die Damen zur kämpfenden Truppe vorstoßen dür­fen. Die Erfahrungen in den Partnerländern sind gut. Warum also dem Beispiel der anderen
nicht folgen?

Triftige Gründe dagegen gibt es keine. Nur: Der Dienst muß freiwillig sein und bleiben, er muß wirklich gleiche Aufstiegsmöglichkeiten eröffnen, und er muß deutlich machen, daß es im Ernstfall für die Frauen nicht zum Letzten kommt Hier die Grenze zu ziehen ist schwie­rig, denn: Wo ist in einem modernen Krieg die Front, wo die Etappe?

Vor allem aber sollte die Diskussion um das heikle Thema ehrlich geführt werden. Nicht militärische Zwänge sind das Entscheidende, sondern eine grundsätzliche Positionsbe­schreibung der Frau in einer technisierten Ge­sellschaft, die den Frieden immer sicherer machenmöchte.




Wie im Jahre 1945 die Kosaken an die Russen ausgeliefert wurden


Viele gingen lieber in den Tod

1975 / Im Frühjahr 1945 rollte eine der schrecklich­sten „Aktionen" der Kriegs- und Nachkriegs­geschichte ab. Im osttirolischen Lienz wurden Zehntausende von Menschen zusammen­getrieben und mit Waffengewalt in vergitterte Eisenbahnwaggons verladen. Grauenhafte Szenen spielten sich ab: Frauen lagen schrei­end auf dem Boden, ihre Kinder schützend im Arm haltend. Männer schnitten sich mit Glas­scherben die Pulsadern auf. Nur wenigen war die Flucht in die Berge gelungen. Die anderen erwartete der sichere Tod oder ein Leben im Gefangenenlager. Etwa 12.000 Kosaken wur­den in den letzten Maitagen 1945 unter briti­schem Kommando an die Russen ausgeliefert. Ein Volk stand vor der endgültigen Vernich­tung.

Die Kosaken hatten, wie schon so oft in ihrer Geschichte, wieder einmal auf die falsche Kar­te gesetzt. Von Hitler erhofften sie sich die Befreiung von der verhaßten Zentralgewalt in

Moskau. In deutscher Uniform kämpften sie gegen Rußland. Von Hitler wurden sie 1944 schließlich zur Verteidigung des Westwalls in die Normandie geworfen. Als Deutschland den Krieg verlor, war auch ihr Schicksal besiegelt. Churchill und Roosevelt hatten Stalin in Jalta die Repatriierung aller nach Beendigung der Feindseligkeiten in britischen und amerikani­schen Händen befindlichen sowjetischen Staats­bürger versprochen.

In Lienz, wo die Kosaken nach dem Krieg konzentriert wurden, wurde das grausame Ver­sprechen eingelöst. In den Wäldern standen britische Panzer, leichte Geschütze und mit Maschinengewehren bewaffnete englische Sol­daten. Am Himmel kreisten Kampfflugzeuge.

Für die Kosaken in den Lagern gab es keine Chance. Nach eintägigem Kampf war der letz­te verzweifelte Widerstand gebrochen. Lang­sam rollte ein Transport nach dem anderen Richtung Wien-Moskau. Wer nicht gleich hin­ter der Grenze von den Russen erschossen wurde, wanderte in die Strafgefangenenlager Sibiriens. Dort traf Solschenizyn die Unglück­lichen, die freilich glücklich sein konnten, daß sie überhaupt noch lebten. Diejenigen, die der Verschleppung entgingen, erwartete ein Flüchtlingsschicksal im Westen. Einige gingen nach Amerika. Manche blieben in Deutschland oder Österreich hängen. 1975 lebten noch gan­ze 12 Kosaken in München. Ein einst stolzes Volk war zerschlagen.

Seine Geschichte reicht bis ins 9. Jahrhun­dert zurück. Nach jahrhundertelangen Kämp­fen mit rivalisierenden Völkern, vor allem mit den Tataren, gelang es den Kosaken Mitte des 16. Jahrhunderts am Don einen von Moskau unabhängigen Staat zu bilden: eine militärisch ausgerichtete Republik. 1774 wurde die Repu­blik schließlich zu einer Provinz Rußlands degradiert. Die Männer verdingten sich als Soldaten im Heer des Zaren. 60.000 zogen unter ihrem Führer Platow in den Krieg gegen Napoleon, der ihre Gefährlichkeit und Tapfer­keit schnell erkannte: „Sie sind äußerst fähig, einen Partisanenkrieg zu führen. Sie sind Krie­ger, denen man nicht beikommen kann. Mir gelang es niemals, einen Kosaken gefangenzu­nehmen. Gebt mir Kosaken und ich erobere die ganze Welt."

Die einstigen Zarenhasser wur­den zu den treuesten Gefolgsleuten des russi­schen Kaiserhauses. 1914 lebten noch etwa 1,3 Millionen Kosaken am Don. Drei Jahre nach der bolschewisti­schen Revolution, die die Kosaken von Anfang an mit aller Leidenschaft bekämpften, waren es nur noch etwa 150.000. Der Rest war von den Roten erschossen und vertrieben worden, nachdem Lenin sein anfängliches Versprechen, den Kosaken Autonomie zu gewähren, wider­rufen hatte.

Als die Deutschen dann in Rußland einmar­schierten, glaubten die versprengten Reste des Kosakenvolkes an eine Wiedergeburt ihrer Nation. In einer Deklaration der Reichsregie­rung vom 10.11.1943 wurden ihm „alle seine Vorrechte, die seine Vorfahren in früheren Zeiten hatten, seine Selbständigkeit, die ihm den geschichtlichen Ruhm brachte und die Unverletzlichkeit seines Landes, das von den Vorfahren mit Blut und Schweiß gewonnen wurde" versprochen. Daß sich Hitler mit die­sen hohlen Versprechungen nur die vorüberge­hende Unterstützung der Kosaken gegen Mos­kau sichern wollte, haben sie nicht erkannt.

Mit den geschlagenen deutschen Heeren strömten sie nach Westen, auf der Flucht vor der Rache Moskaus, das die Kosaken als Kol­laborateure betrachtete und unerbittlich abur­teilte, wo es ihrer habhaft wurde. Doch dort glaubten sie schließlich in Sicherheit zu sein. In Lienz fielen sie der kurzen Freundschaft zwi­schen den Siegermächten zum Opfer. Die 800 Gräber der Männer und Frauen, die sich von den Engländern lieber erschießen und von Panzern überrollen ließen, als die vergit­terten Waggons zu besteigen, die sie in die Hände der Russen bringen sollten: sie zeugen bis heute vom Heldenmut der Kosaken, vom Freiheitsdrang eines Volkes, das in seiner Ge­schichte so oft verraten wurde.



Irak gegen Iran: Ein Krieg, der Europa wenig kümmerte Ein Kapitel aus einer Reportagen-Serie

Freudentaumel und die Prozession der Toten

Weiber, Soldaten - Sack und Pack. Musik aus Lautsprechern, inbrünstige Gesänge im heiligen Monat Ramadan. Bagdad, die Stadt Harun al-Raschids, glitzert wie tausend Stern­chen, versinkt langsam in der Nacht. Gemäch­lich rollt der Zug gen Süden. Inschallah, so Gott will, werden wir nach neun Stunden Basra erreichen. Doch im kriegsgebeutelten Irak gilt heute das arabische Mumkin - mag sein, mag nicht sein - mehr denn je.

Kaum hat die in Frankreich gebaute Loko­motive etwas Tempo zugelegt, ist die Fahrt schon wieder zu Ende. Eine Frau rennt gackernd und flatternd wie ein Huhn durch den Zug. Soldaten grinsen, der Schlafwagenschaffner lugt aus der Teeküche. Irgend jemand zieht kurzentschlossen die Notbremse. Es quietscht und ruckt, Tohuwabohu in den Abteilen. Die Frau reißt die Zugtür auf, rafft den Schador, hopst ins Dunkle. Auch das ist Kriegs­wirklichkeit im Irak: Ein rammelvoller Zug wird angehalten, um einer Soldatenfrau, die sich beim Abschied von ihrem Mann vertrödelt hat, die Reise an die Front zu ersparen.

Zwei Tage später in Kerbela, eine Autostun­de von Bagdad entfernt. Die Al-Abbas-Moschee brütet in der Mittagshitze, 35 Grad im Schatten. Gläubige lagern mit Kind und Kegel in den Innenhöfen. Das Gold der Kuppel und der Minarette gleißt in der Sonne. Die Wärter, die Nicht-Muslimen den Zutritt zum Allerhei­ligsten zu verwehren haben, dösen vor sich hin. Gebetsschnüre gleiten träge durch ihre Finger. Plötzlich durchschneiden gellende Schreie die andächtige Ruhe. Vier Frauen wanken hinter einem Sarg, vermengen sich zu einem wim­mernden, kreischenden, heulenden Knäuel.

Ein Gefallener, einer von 200.000 bis 300.000, die der Irak in dem seit acht Jahren dauernden Krieg mit dem Iran beklagt, wird nach religiösem Brauch der Schiiten zum letz­ten Besuch ins heilige Kerbela gebracht, bevor er in seiner Heimat die letzte Ruhe findet. Die Prozession der Toten reißt nicht ab - bedrük­kende Kriegswirklichkeit im Irak.

Sechzig Prozent der Bevölkerung bekennen sich zum Schiismus, jener Glaubensrichtung im Islam, die der Ayatollah Khomeini mit Feuer und Schwert verbreiten will. Unter dem Schlachtruf Kerbela jagt er daher seine Solda­ten gegen das Nachbarland, wo eine sunnitische Führungsschicht das Sagen hat. Doch der reli­giöse Ansturm prallte bisher am arabischen Nationalismus ab.

Seit dem 18. April haben die Iraker die Reihen noch fester geschlossen. An j enem Tag warfen sie die seit Jahrtausenden ungeliebten Perser in einer überraschenden Offensive aus der Halbinsel Fao, einer versalzten und ver­sumpften Landschaft am Schaft el-Arab, dem Zusammenfluß von Euphrat und Tigris.

Über die Rückgewinnung des vor drei Jahren von den Arabern eroberten Gebiets schießen die Spekulationen auch drei Wochen danach noch ins Kraut. Haben die Amerikaner den Irakis heiße Tips zugespielt, hat Teheran die Region militärisch ausgedünnt, um alle Kraft an die Nordfront zu werfen, drohten die Iraker mit einem Gegenangriff? Fragen über Fragen, die auch nach einer Sightseeingtour über das Schlachtfeld offen bleiben. Und die Iraker halten eisern dicht. Sie setzen dabei ein hinrei­ßendes Lächeln auf, in ihren Augen sprüht der Schalk, und die eleganten Bewegungen ihrer Hände sagen: Mumkin - mag sein, mag nicht sein.

Nein, im Irak wird nicht gefragt, im Irak wird gefeiert. Über das Militär ergießt sich ein Ordensregen - verbunden mit mancherlei Ge­schenken. Ayad Ftahey Al-Rawi, Komman­deur der Präsidentengarde und einer der Hel­den von Fao, bekam die Auszeichnungen gleich im Dutzend. Da auch Generale nicht allein von der Ehre leben, sind Autos, Geldund Auslands­reisen willkommene Dreingaben. Und Präsi­dent Saddam Hussein gibt mit vollen Händen. Nach Jahren spärlicher Erfolge hat er wieder Luft. Das Volk ist stolz auf seine Soldaten, die Soldaten sind stolz auf ihren Sieg.

Kein Wunder, daß der 51. Geburtstag Saddams am 28. April - zehn Tage nach dem Mirakel in Fao - das Land in einen wahren Taumel stürzt. Mädchen und Buben paradieren, Soldaten posieren - Standbein, Spielbein, Brust raus -, Frauen jubeln. Das Fernsehen zehrt allabendlich von der teils verordneten, teils spontanen Begeisterung. Wie zu den Zei­ten der Kalifen preisen Hofschranzen den gro­ßen Führer. „Saddam, Saddam", kreischt es aus Kinderkehlen, riesige Geburtstagstorten werden angeschnitten. Ergebenheitsadressen heruntergeleiert. Sogar die Kurden, die im Irak Leid erdulden müssen, werden zum Jubilieren abkommandiert, die Soldaten an der Front mit Tamtam aufgemöbelt.

Und wer von ihnen Urlaub hat, der macht sich in Bagdad einen Fez. Trotz Ramadan ist im „Sheraton" jeden Abend der Teufel los. Bis tief in die Nacht hinein dudelt und dröhnt es. Männer in Uniform wiegen sich schwitzend in den Hüften, wirbeln recht unsoldatisch im Kreis, klatschen ekstatisch in die Hände. Das Grauen an der Front kommt früh genug. Jetzt heißt es: Leben und überleben. Unweit des Hotels steht ein Mahnmal des Unbekannten Soldaten. Un­bekannt? Im Irak gibt es heute kaum eine Familie ohne einen toten oder verwundeten Sohn, Vater, Ehemann, Bruder.

Dem Europäer, der auf Einladung der iraki­schen Regierung eine Woche lang ein bißchen in das Land hineinschnuppern darf, fällt es schwer, die widersprüchlichsten Eindrücke zu einem Bild zu formen. Zum Beispiel Bagdad: Auf den ersten Blick wirkt die Stadt vital, in weiten Teilen aufstrebend und modern. In den Basars wuseln die Menschen, kaufen, handeln, tauschen. Auf den Boulevards genießen Tau­sende abends die laue Luft, schlendern an Schaufenstern vorbei, schlürfen Tee, stehen schwatzend die Männer beisammen.

Und doch: Wie unter dem Schador der Frau­en mal ein roter Pumps, ein bunter Stoff, ein verzierter Strumpf aufblitzt, ist umgekehrt das Düstere hinter all dem fröhlich-orientalischen Getriebe zu spüren.

Das Zimmermädchen bringt schluchzend die frischen Handtücher. Nichts ist aus ihr heraus­zubringen. Erst als sie sich davonschleicht, macht sie eine Handbewegung, die alles sagt: Ein Toter in der Familie, ein weiteres Opfer des Krieges. Oder die Meldung im englischspra­chigen „Baghdad Observer", daß anläßlich des Saddam-Geburtstages politische Gefangene amnestiert worden seien. Hier wird raffiniert Gnade mit Drohung verknüpft. Denn die Nach­richt sagt es deutlich: Wer nicht spurt, wird eingesperrt. Er kann lediglich, so es dem Re­gime paßt, auf Gnade hoffen, kaum aber auf Gerechtigkeit.

So gesehen erscheint der Personenkult um Saddam in einem anderen Licht. Der große Staatsmann, dessen Konterfei jeder Händler an seine Bude hängt, soll als Schutzpatron wir­ken. Er bietet die einzige Sicherheit, die es für einen Iraker geben kann. In dieser an Orwell erinnernden Situation liebt die Bevölkerung vielleicht sogar ihren Führer, obwohl sie natür­lich weiß, daß jedes Aufbegehren mit eiserner Faust zermalmt wird. So klatscht man begei­stert Beifall, in der Hoffnung, ungeschoren davonzukommen und in der Hoffnung auf den Frieden - Inschallah.



Nordirland - der immerwährende Straßenkrieg
Morden ohne Ende?

1990 / Der Krieg begann im Sommer 1969. Damals marschierten die Briten in Nordirland ein. End­lich sollte Frieden einkehren in einem seit Jahr­hunderten brodelnden Konflikt.

Doch die Hoffnung trog. Seither sind fast 3.000 Menschen ums Leben gekommen, viele gezielt, manche aus Versehen. Trauer und Entsetzen über die Bluttaten gehören längst zum Ritual britischer Politik. Auch nach dem Mord an Jan Gow, dem Vorsitzenden des Nord­irland-Ausschusses, scheint alles beim alten zu bleiben. Man werde vor den Terroristen der IRA nicht in die Knie gehen, sagte Premierministerin Margaret Thatcher.

Nun macht sich Prinzipienfestigkeit immer gut, gelegentlich ist sie allerdings nur ein Aus­druck politischer Phantasielosigkeit. Oder ist es nicht ein Armutszeugnis, daß das wirt­schaftlich und militärisch mächtige Großbri­tannien unfähig bleibt, das Nordirland-Pro­blem zu lösen? Die eiserne Lady zu spielen, ist jedenfalls zu dürftig.

Doch die Haltung ist bezeichnend. Sie ent­springt einer kolonialherrlichen Attitüde, die auch im Königshaus gepflegt wird. Erst vor kurzem machte sich Prinz Philip über den Konflikt in einer Art und Weise lustig, die selbst in England Leute mit Geschmack be­- fremdete. Sicher mag es Vorteile haben, daß die Briten auch in furchtbaren Situationen kühlen Verstand, ja sogar Galgenhumor behal­ten. Ein Ersatz für Konzepte ist das aber nicht. London wird eines Tages mit den Vertretern der Katholiken in Ulster reden müssen, um Konzessionen wird es nicht herumkommen. Weltweit hat der Dialog verfeindeter Gruppen und Völker Hochkonjunktur - da sollten Großbritannien und Nordirland eine Ausnahme sein?

Die wirklichen Übeltäter sitzen freilich bei der IRA. Ihr Protest hat seinen Ursprung unbe­streitbar in sozialer Diskriminierung. Die Iren werden seit ihrer Unterwerfung gegenüber den eingewanderten Engländern benachteiligt ­kulturell, am Arbeitsplatz, sozial. Von Anfang an mischten sich in die britische Haltung auch rassistische Töne. Die Religion ist schon lange nicht mehr das eigentliche Thema; aber sie läßt sich zur Verschärfung des Gegensatzes und zur Mobilisierung von Anhängern trefflich ausschlachten.

Das Herumreiten auf historischen Fakten reicht zur Erklärung der Feindseligkeiten nicht mehr aus. In der IRA machen sich einfach Leute breit, die vom Morden leben. Sicher, die Arbeitslosigkeit unter den Katholiken ist er­schreckend hoch - in einigen Gegenden liegt die Rate bei 50 Prozent. In Belfast leben 90.000 wie in einem Getto. Die Jungen wachsen auf in Anarchie, jugendliche Autodiebe fürchten we­der Eltern noch Polizei. Doch das ist keine Entschuldigung dafür, daß die IRA die einzige Autorität ist, die „einen eigenen Ordnungs­dienst aufgebaut" hat. Man gibt sich als Frei­heitskämpfer und Märtyrer und ist doch nur ein kleiner, mieser Killer. Vom Töten und vom

Straßenkampf lebt sich's eben besser als von der kärglichen Arbeitslosenunterstützung. Ganz zu schweigen von der Verehrung, die Gewalt­täter noch immer bei der katholischen Bevölke­rung genießen. Die Zeiten, da Zehntausende von Frauen auf die Straße gingen, um gegen den Wahnsinn zu demonstrieren, sind längst vorbei. Die Menschen haben resigniert, die Gestaltung ihres Schicksals überlassen sie den Maulhelden und dunklen Geschäftemachern.

Daher muß die Regierung in London den ersten Schritt tun. Es reicht nicht, nach jedem Anschlag zu versichern, man werde keinen Schritt zurückweichen. Militärische Lösungen gibt es nicht, jeder einfache Soldat weiß das unterdessen.

Wie wäre es daher, an dem vor fünf Jahren geschlossenen Vertrag zwischen London und der Republik Nordirland anzuknüpfen? Der irische Premier Haughey wird auch von den Katholiken Nordirlands geschätzt. Jedes Über­einkommen mit ihm ist ein kleiner Schritt in Richtung Frieden. Daß Frau Thatcher ihn nicht mag, sollte keine Rolle spielen. Im Nordirland-Konflikt geht es um wichtigere Dinge. Und politische Überraschungen sind nicht auf den Osten Europas beschränkt.




Ein erster Nachruf auf Jugoslawien

Titos fatales Erbe

1988 / Jugoslawien schlittert ins Chaos. Schon kursieren Gerüchte über einen bevorstehenden Militärputsch. Oder wird der Vielvölkerstaat gar auseinanderbrechen? In der Not schwär­men plötzlich viele Jugoslawen von den schö­nen Zeiten unter Tito. Der Mann in den präch­tigen Uniformen und mit dem Charisma des Partisanenhelden hatte dem Land durch seinen Bruch mit Moskau außenpolitischen Glanz verliehen und im Inneren durch geradezu mon­archische Ausrichtung auf seine Person die Teilrepubliken zusammengehalten. Doch Nost­algie hilft nicht weiter. Auch in Jugoslawien geht sie an den Tatsachen vorbei.

Die Nachfolger Titos haben nämlich nicht, wie jetzt gerne behauptet wird, ein großes Erbe verspielt, sondern müssen sich mit einer fatalen Hinterlassenschaft herumschlagen. Und wie das in solchen Fällen ist: zu alten Fehlern kommen neue hinzu.

Der vor acht Jahren gestorbene Marschall ist an zwei gravierenden Fehlentwicklungen schuld. Er hat sein Reich wirtschaftlich unso­lide aufgebaut und alle Macht an sich und die Partei gebunden. Insoweit war er ein klassi­scher Vertreter des real existierenden Kommu­nismus. Nur persönlich war er ein bißchen umgänglicher als seine Kollegen von Moskau bis Ostberlin, von Bukarest bis Prag. Und er war ein gutes Stück raffinierter als sie. Mit seinem jugoslawischen Modell des Kommu­nismus gaukelte er dem Westen vor, in Belgrad sei ja eigentlich alles halb so schlimm.

Man griff dem guten Mann politisch und finanziell unter die Arme, Jugoslawien, so die Vorstel­lung, sollte langsam ins kapitalistische Lager geholt werden. Tito nahm zwar das Geld, steckte es aber in unsinnige Objekte und dachte nicht daran, die staatliche Kontrolle zu lockern. Die „Arbeiterselbstverwaltung" ist ja nur Augen­wischerei. Denn ein System, das die Entschei­dungsgewalt in die Hand eines Kollektivs legt, kann nur funktionieren, wenn das Kollektiv auch für Fehlentscheidungen verantwortlich gemacht wird. In Jugoslawien aber verdrückt sich jeder, wenn es brenzlig wird.

Zudem ist es Tito nicht gelungen, ein Zusam­mengehörigkeitsgefühl aller Jugoslawen zu schaffen. Jugoslawien, das waren er, das Mili­tär und die Erinnerung an eine glorifizierte Vergangenheit. Mit seinem Tod brachen die historischen, ethnischen, religiösen und sozia­len Gegensätze wieder auf.

Die Nachfolger, denen eine komplizierte Verfassung langfristige Konzepte schier un­möglich macht, stehen seitdem ratlos um den Patienten. Die einen versuchen es mit mehr Marktwirtschaft, die anderen mit mehr Plan. Herausgekommen ist dabei ein in der Welt wohl einmaliges Kuddelmuddel. Da wird etwa ein Lohnstopp erlassen, aber sofort umgangen, wenn Unruhen drohen. Und auf den Preisstopp pfeifen jene, die für ihre Produkte noch gutes Geld bekommen können.

Wie in Ungarn, aber wesentlich krasser, zerfällt das Land in zwei sich überlappende Wirtschaftssysteme - in eines der oft jenseits der Legalität operierenden Kapitalisten in den prosperierenden Republiken und in eines der Sozialisten in den unterentwickelten Regionen. Wobei die Sozialisten keineswegs nur die Dum­men und Bösen sind. Ein unrentables Werk zu schließen, ist leichter gesagt als getan. Die Ar­beitslosenquote beträgt jetzt schon geschätzte 20 Prozent. Die Sanierung aller Verlustbetrie­be läßt sich also aus sozialen Erwägungen gar nicht durchführen. Man denke an die reiche Bundesrepublik, wo die drohende Schließung von Krupp-Rheinhausen Massenproteste aus­löste.

Jugoslawien ist nur zu retten, wenn es ge­lingt, den sozialen Konsens zwischen seinen Republiken wieder herzustellen. Die jetzt auf­gebrochenen religiösen und ethnischen Gegen­sätze sind ja in erster Linie eine Folge des Zerfalls in einen relativ wohlhabenden Norden und einen armen Süden. In dieser Situation ist es leicht, nationalistische Instinkte anzusta­cheln, leichter jedenfalls, als eine Verbesse­rung der Lebensverhältnisse zu erreichen. Man prügelt unter dem Vorwand hehrer Motive aufeinander los und meint doch nur das eine: Warum geht es dir wirtschaftlich besser als mir?




Zur Nobelehrung für Elie Wiesel

Preiswürdiges Bemühen

1986 / Keine internationale Auszeichnung ist so umstritten wie der Friedensnobelpreis. Den­noch blickt die Welt jeweils im Oktober ge­spannt nach Oslo. Der Frieden, so scheint es, ist eben immer noch eine faszinierende Ange­legenheit. Selbst jene, die den Preisträger aus politischen, ideologischen oder sonstigen Grün­den ablehnen, können sich zumindest an ihrer Empörung delektieren.

Anlaß dazu gab es genug. Menachem Begin zum Beispiel war ein krasser Fehlgriff, ebenso Henry Kissinger und Le Duc Tho.

Läßt man allerdings die Preisträger seit 1976 Revue passieren, ist der Gesamteindruck so schlecht nicht. Amnesty International, Mutter Teresa, das UN-Hochkommissariat für Flücht­linge, Alva Myrdal und Lech Walesa - das sind Organisationenund Menschen, die ohne Zwei­fel eine Ehrung verdient haben.

Den Frieden freilich, wie sich das Alfred Nobel einst gedacht hatte, haben auch sie nicht befördern können. Der schwedische Kosmo­polit, Erfinder und Industrielle wollte jene ausgezeichnet sehen, die den wichtigsten Bei­trag zur „Verbrüderung der Völker, zum Ab­bau stehender Heere und zur Abhaltung von Friedenskongressen" leisteten. Hielte sich das fünfköpfige Osloer Preisgremium an diese Vorgabe, es würde wohl kaum fündig werden. Daher hat es in den letzten Jahren den Friedens­begriff ausgeweitet und den Kampf für Menschenrechte als Einsatz für den Frieden definiert.

Diese Begriffserweiterung, so gut sie ge­meint sein mag, hat allgemein befriedigende Entscheidungen aber nicht erleichtert. So ist der südafrikanische Bischof Desmond Tutu

für die Schwarzen und viele andere Menschen in der Dritten Welt ganz sicher ein Kämpfer für die Menschenrechte, während man anderswo sein Engagement weniger unter dem Zeichen des Friedens sieht. Das galt seinerzeit übrigens auch für Martin Luther King.

Die Nobelpreisverleiher haben es in einer geteilten Welt zunehmend schwer. Die Konti­nente wollen berücksichtigt werden, die Linken und die Rechten, die Weißen und die Farbigen. Sie alle üben Druck aus, jagen die Lobbyisten los, treffen Absprachen, lassen sich auf Kuh­handel ein. Das Ergebnis ist dann leider - wie beim ebenfalls längst politisierten Literatur­nobelpreis - gelegentlich enttäuschend.

Auch der diesjährige Friedenspreis an den amerikanischen Schriftsteller Elie Wiesel wird nicht überall auf Zustimmung stoßen. Gerade hierzulande werden sich manche fragen, ob es denn 40 Jahre nach Kriegsende angebracht sei, erneut international an das Verbrechen an den Juden zu erinnern. Die Kritiker werden sich nur daran erinnern, daß Elle Wiesel vehement ge­gen den Besuch Präsident Reagans auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg eintrat und mit anderen daran arbeitete, die Vergangenheit Kurt Waldheims zu durchleuchten.

Doch der Friedensnobelpreis ist keine deutsche Angelegenheit. Sieht man die Verlei­hung im größeren Rahmen, dann gehört sie zu den besseren der vergangenen Jahre. Mit Wie­sel, selbst einst ein Opfer, wurden Millionen anderer Opfer nachträglich geehrt, mit Wiesel wird an das Schicksal der Juden in der Sowjet­union gemahnt, mit Wiesel wird aber auch auf jene verwiesen, die noch heute unter Fanatis­mus und Rassenwahn zu leiden haben. Und mit Wiesel wird ein Mann geehrt, der nicht nur den Tätern von einst bohrende Fragen stellt, sondern auch jenen, die damals zugesehen ha­ben - tatenlos, wie Elie Wiesel beispielsweise den Amerikanern vorwirft.

Der Preisträger 1986 ist ebensowenig ein Heiliger wie alle seine Vorgänger. Wie auch? Wer für eine Sache kämpft, schießt zwangsläufig mal übers Ziel hinaus; wer sich enga­giert, verletzt auch. Daher sollte man nicht jedes Wort und jede Tat Elie Wiesels auf die Goldwaage legen. Entscheidend sind das Wol­len und die Idee, die ihn geleitet haben: Aussöh­nung zwischen den Rassen, Erinnerung an die Opfer, Hoffnung aufeine bessere Welt. Dieses Bemühen um etwas mehr Frieden unter den Menschen ist trotz mancher Bedenken gegen­über dem Menschen Elie Wiesel allemal preis­würdig.



Als alles begann - die erste Lücke im Eisernen Vorhang


50 Jahre später

1989 / 50 Jahre später, nach Kriegsbeginn, rennen Deutsche über die ungarische Grenze in die Freiheit. 50 Jahre nach Kriegsbeginn sind in Warschau und Budapest die Kommunisten auf dem Rückzug. 50 Jahre nach Kriegsbeginn vollzieht sich in der Sowjetunion ein histori-scher Wandel - vom Aufbegehren nationaler Minderheiten bis hin zu dem Bemühen, die stalinistische Vergangenheit neu zu bewerten.

Noch weiß niemand, wohin die Reise geht. Aber eines ist sicher: Europa häutet sich, Tren-nungslinien verschwimmen, alte Feindschaf-ten werden zu neuen Freundschaften. Ideologi-en - in Ost und West - verlieren an Anziehungs-kraft, die Zweiteilung Europas löst sich auf in Koalitionen, an die noch vor kurzem niemand im Traum gedacht hätte.

Das ist Hoffnung und Risiko zugleich. Hoff-nung, weil sich der Kontinent auf die Prinzipi-en der Freiheit und Selbstbestimmung besinnt; Risiko, weil der Umbruch im Osten Europas die Gefahr neuer Instabilitäten in sich birgt. Reformationen lösen leicht Gegenreformationen aus. Imperien schlagen gern zurück, und sei es nur aus Schwäche. Noch ist also nicht geklärt, ob der Zweite Weltkrieg seine Macht über die Geschichte verliert. Doch 50 Jahre nach dem 1. September 1939 sind die Chancen so groß wie nie.

Die Vorgeschichte jenes Tages, der die Welt veränderte, beschäftigt seit Jahrzehnten die Gemüter. Immer wieder wurde die Frage ge-stellt: Was wäre gewesen, wenn ..., wie konnte es dazu kommen? Es ist hier nicht der Platz, diese Diskussion weiterzuspinnen. Die großen Linien sind ja unumstritten: Hitler wollte den Krieg, er wollte ihn total, selbst auf die Gefahr hin, sein eigenes Volk in den Abgrund zu reißen. Er tat es schließlich: schamlos und menschenverachtend. Daran ist nicht zu rütteln, auch nicht mit neuen Erkenntnissen im Detail - etwa dem Hitler-Stalin-Pakt und dessen Zusatzprotokoll.

Die Deutschen, die dem Diktator lange jubelnd gefolgt sind, büßten schwer für diesen Ausbruch des Größenwahns. 1945 standen sie vor einem Trümmerhaufen - politisch, wirt-schaftlich, kulturell, moralisch. Deutschland, so fürchteten viele, werde sich von der Kata-strophe nie mehr erholen. Doch zumindest die Bundesrepublik hatte Glück. Der Kalte Krieg verhalf ihr zu raschem Aufstieg. Sie wurde ein respektiertes, ja bewundertes Mitglied der Staatengemeinschaft.


Vermessen sind daher die gerade in letzter Zeit wieder lauter werden-den Klagen über marginale Mitspracherechte der westlichen Alliierten. 50 Jahre sind in der Geschichte nur ein Wimpernschlag, 50 Millionen Tote dagegen ein Faktum des Grauens, das noch lange nachwirken wird. Man darf ja auch nicht vergessen, daß dieser Krieg nicht nur menschliches Leid gebracht hat, sondern ehe-mals vorherrschende Mächte deklassierte. Frankreich und England verloren ihre Kolonialreiche, kleinere Staaten wie Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei ihre Unabhängig-keit. Das wiegt schwer, verständlicherweise zu Ungunsten jener, die für die Zerstörung der Alten Welt verantwortlich waren.

Der Papst hat in seiner Erklärung zum Kriegsbeginn von einem schmerzvollen Jahrestag gesprochen. Ja, die Erinnerung schmerzt noch immer. Aber aus Erinnerung allein erwächst nichts Neues. Sie ist allerdings Voraussetzung für das Neue, wenn es denn gut werden soll. Die Bundesrepublik hat hier große Aufgaben vor sich. Sie stellen sich nicht nur aus der Vergangenheit, sondern aus gegenwärtigem Interesse. Wem nützt es denn, wenn sich im kommunistischen Herrschaftsbereich demokra-tische Kräfte regen? Wer kann denn darauf hoffen, daß eines Tages die Wiedervereinigung aufder Tagesordnung steht? Gewaltsam ist sie ja nicht zu haben.

Noch wirkt der Westen wie gelähmt, die Neuorientierung macht ihm zu schaffen, nicht nur militärisch. Aber es bleibt keine Wahl: Wir müssen, wie dies Bismarck einmal gesagt hat, den Mantel Gottes zu erhaschen suchen, wenn er durch die Geschichte streift. Das Wort mag heute pathetisch klingen. Seine Wahrheit hat es behalten. 50 Jahre nach dem Kriegsbeginn ist die Situation da: Der Frieden könnte mehr werden als eine durch Waffen aufrechterhalte-ne Stabilität, er könnte Kopf und Herz der Menschen erfassen.




Deutschland und Polen nach der Wende

 
Die Aussöhnung braucht Zeit 


1991 / Das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen ist trotz der Wende in beiden Ländern noch schwer gestört. Die geschichtlichen Grün-de dafür sind oft hin und her gewendet worden, in der Nachkriegszeit zu Lasten der Deut-schen. Der Terror der Nationalsozialisten im Nachbarland, die Vernichtung der Juden, ha-ben verständlicherweise manche großen und kleinen Sünden der Polen vergessen lassen.

Nun wäre eigentlich ein Tag der Freude fällig gewesen. Freier Reiseverkehr über die Grenzen - das ist eine große Erleichterung für das noch bevorstehende Versöhnungswerk. Das aber braucht Zeit. Kein Wunder also, daß die ersten Stunden des denkwürdigen Tages an rechtsradikale Krakeeler gingen. Ihre besof-fene Randale richtet sich selbst.

Bedenklicher sind jene, die schon vor dem Stichtag die „Polen-Invasion" in schwarzen Farben gemalt haben. Fahrlässiges Geschwätz erzeugte, vor allem im Grenzgebiet und in Berlin, fast Panikstimmung. „Der Pole kauft uns alles weg", das waren noch die harmlose-ren Parolen. Es zeigt sich wieder einmal das kurze Gedächtnis der Menschen. Denn als die ehemaligen DDR-Bürger schon Anfang der 70er Jahre für kurze Zeit ohne Visum nach Polen und in die Tschechoslowakei durften und später eine einseitige Visumfreiheit allen Deutschen zugute kam, strömten die Men-schen zu Zehntausenden Richtung Osten. 


Sie kauften alles, was nicht niet- und nagelfest war. Damals hieß es reichlich hochnäsig, die Polen sollten sich nicht so haben. Nicht nur das. Man rümpfte auch die Nase über die heruntergekommenen polnischen Städte und verbreitete sich herablassend über den angeblich mangelhaften Arbeits willen der Nachbarn. Manches von dieser Kritik fällt heute auf die Ostdeutschen zurück. Der sozialistische Schlendrian hat auch ihr Land zerrüttet.

Daher ist der Ansturm einstweilen geringer als erwartet. Die ehemalige DDR ist kein Para-dies mehr, zumal sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Polen merklich stabilisiert ha-ben. Wenn schon, dann zieht es die Polen Richtung alte Bundesrepublik und in andere westliche Länder. Und was ist schon ein 40- Kilometer-Stau? Den haben wir an jedem Wochenende, ganz zu schweigen vom jährli-chen Millionenzug der Deutschen Richtung Süden.





Über die Benachteiligten im Familienrecht

Kind im Kreidekreis

1982 / Den Streit zwischen der natürlichen und der Pflegemutter um ein Kind kennt schon die Bibel. Bert Brecht hat das Problem im „Kauka-sischen Kreidekreis" aufgenommen. In beiden Fällen geht die Entscheidung zugunsten der Pflegemutter aus. Doch Salomons Urteil liegt lange zurück und Brechts Stück ist nur ein Märchen. Wenn heute leibliche Eltern und Pflegeeltern um ein Kind kämpfen, hat die Sprache des Blutes meist Vorrang vor der Sprache der Liebe. Pflegeeltern haben sich nach dem Ge-setz nur als Vertreter der leiblichen Eltern, als „Funktionsverwalter" öffentlicher Jugendhilfe zu verhalten, keinesfalls jedoch wie leibliche Eltern, da sie als Eltern auf Zeit „die notwen-dige Distanz zum Kind halten müssen".

Hinter den trockenen juristischen Formulie-rungen stehen menschliche Tragödien. Das Wohl des Kindes wird zwar stets beschworen, gerät aber meist unter die Räder. Der Juristentag in Nürnberg hat sich daher mit der Frage befaßt, ob und wie die Rechts-stellung der Pflegekinder neu geregelt werden soll. 70.000 gibt es in der Bundesrepublik, und ihre Zahl wächst; denn die ständige Lockerung des traditionellen Familienverbundes erschwert die Möglichkeit vieler Eltern, bei eigener - wie auch immer begründeter - Verhinderung die Kinderpflege in der eigenen Familie zu lösen. Wirtschaftliche Zwänge veranlassen zudem zunehmend mehr Eltern, ihre Kinder außer Haus zu geben.

Was also auf den ersten Blick wie ein Rand-problem aussieht, betrifft in Wirklichkeit Hun-derttausende von Menschen. Reduziert man die breite Diskussion auf dem Juristentag auf den Kern, geht es um die Frage: Soll künftig das gewachsene Verhältnis zwischen Pflegeel-tern und Pflegekindern Vorrang haben vor dem Verhältnis der „biologischen" Eltern zu ihrem Kind?

Deutschlands Rechtsgelehrte haben sich die-sem brisanten Thema, das Auswirkungen auf das gesamte Familien- und Eherecht haben könnte, mit Behutsamkeit genähert. Dabei be-stand auch große Bereitschaft, Vertretern an-derer Disziplinen zuzuhören. Dies gilt übri-gens nicht nur für die Abteilung Familienrecht, sondern auch für die Strafprozeßabteilung, wo es bei der Frage der Öffentlichkeit in Strafver-fahren darum ging, die psychologische Situati-on des Angeklagten, der Zeugen und des Ge-richts neu zu bewerten.

Psychologie: Das Zauberwort fasziniert noch immer Dochtrotz des gelegentlich recht selbstbewußten Auftretens der Psychologen ist die junge Wissenschaft vor gravierenden Fehlin-terpretationen nicht gefeit. So räumte Reinhart Lempp, Deutschlands bekanntester Kinderpsy-chologe, in seinem Referat ein, daß die „Lehre" der 60er und 70er Jahre, für das Fehlverhalten von Kindern sei in jedem Fall die Mutter ver-antwortlich zumachen, zu ideologischen Über-treibungen geführt habe. Ingmar Bergmans Film „Herbstsonate" ist ein Beispiel dafür.

Um nicht alte Fehler zu wiederholen, sollte daher der Gesetzgeber die Verbesserung der Rechtsstellung der Pflegekinder vorsichtig angehen. Sicher ist unbestreitbar, daß die gel-tende Gesetzgebung überholungsbedürftig ist. Geht man allerdings vom Wohl aller Beteilig-ten aus, müßten Lösungen gefunden werden, die die scharfe Trennung vermeiden. So ist nicht einzusehen, warum ein Kind nicht mit seinen natürlichen und seinen Pflegeeltern aufwachsen soll, denn Kinder können durch: aus mehrere Bezugspersonen vertragen. Die traditionelle Großfamilie hat das ja gerade bewiesen. Käme man zu einer solchen „Mischform", erübrigte sich der Streit zwischen dem psychologisch-sozialen und biologisch-genetischen Element.

Das setzt allerdings voraus, daß das Kind nicht als Besitz begriffen und behandelt wird, weder von den Pflege- noch von den natürlichen Eltern. Mit Gesetzen läßt sich dieses Umdenken freilich nicht durchsetzen.

Es mag ja sein, daß die Blutsbande bisher überbewertet worden sind, daß sich ein Kind einfach dort wohl fühlt, wo es geliebt wird.

Aber bei der Regelung der Rechtsstellung der Pflegekinder müssen auch die natürlichen Elternberücksichtigt bleiben. Denn wer aus wirklicher Not sein Kind weggibt, kann es trotzdem lieben. Und Kindern, die bei Pflegeeltern aufwachsen, sollte nicht die Möglichkeit genommen 'werden, Kontakt zu den „wirklichen" Eltern aufzunehmen; denn wer weiß schon, wie die Psychologie in zehn Jahren vielleicht die heute belächelte Blutsverwandschaft bewertet? 






Von Abtreibung und Leihmüttern

Das Kind als Ware?

1984 / Irgend etwas stimmt nicht, wenn allein 1984 600.000 Kinder geboren und 300.000 abgetrieben wurden, während andere Eltern sich ihr Wunschkind mit Geld erkaufen. Niemand kann bestreiten, daß Kinderlosigkeit für viele Ehepaare eine schwere Belastung ist. Undniemand sollte ihnen das Recht absprechen, deswegen die Möglichkeiten der modernen Medizin in Anspruch zunehmen. Doch dürfen sie wirklich alles tun, um ihren Wunsch zu erfüllen? Zum Beispiel einen anderen Menschen wie einen Sklaven anheuern?
Der Fall der Engländerin Kim Cotton, die für 24.000 Mark das Kind eines ihr unbekannten Samenspenders ausgetragen hat, erregt auch hierzulande die Gemüter. 

Politiker, Juristen und Theologen warnen vor einer noch unübersehbaren Entwicklung, drohen mit Gesetzen, verweisen auf die göttliche Ordnung. Die Ratlosigkeit ist allenthalben groß. Über Huxleys „Schöne neue Welt" mit ihren Menschenzüchtungen ist viel geschrieben worden, doch jetzt, da aus der Utopie Praxis geworden ist, stehen wir erstaunt und aufgeschreckt vor den Folgen. So wäre vorstellbar, daß Leihmütter ihre Dienste nicht nur unfruchtbaren, sondern allen Frauen anbieten, beispielsweise Sportlerinnen, Schauspielerinnen, beruflich eingespannten Frauen, die zwar auf eigene Nachkommen nicht verzichten wollen, aber - bitte ohne dicken Bauch und Morgenübelkeit. Diese Frauen könnten ein passendes Ei spenden, sich aus einer Liste einen passenden Mann suchen und über eine Agentur die Leihmutter beziehen. Nach neun Monaten Lieferzeit holt man sich dann das Produkt ab. Kurzum: Der Fortschritt der Medizin macht es möglich, daß Kinder künftig mehr von Ärzten und Wissenschaftlern erzeugt, als von leiblichen Eltern gezeugt werden.

Mit Strafbestimmungen ist den neuen Herausforderungen nicht beizukommen Die Erfahrungen mit der Abtreibung haben ja gezeigt, wie wenig letztlich in diesem Bereich Gesetze ausrichten können. Auch der Wille, Leben um jeden Preis zu erzeugen, wird immer ein Schlupfloch finden. Das erzählt schon die Bibel in der Geschichte von der unfruchtbaren Sarah, die ihren Mann Abraham aufforderte, mit der Magd Hagar ein Kind zu zeugen.

Wichtiger wäre es - Moral hin, Moral her -, mal zu ergründen, was sich hinter dem alle Bedenken zur Seite schiebenden Wunsch nach Kindern verbirgt. Es muß doch nachdenklich stimmen, daß immer mehr Frauen, die jahrelang alles taten, um keine Kinder zu bekommen, heute Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um schwanger zu werden. Hat der Kinderwunsch etwa oft nur etwas mit den Problemen der Eltern zu tun und so gut wie gar nichts mit dem Kind? Haben wir es mit einer neuen Art der Selbstverwirklichung zu tun, weil Karriere und Partnerschaft nicht halten, was sie versprochen haben? Das Kind als Seelentröster in einer verfahrenen Situation?
Oder sind Retortenbaby, Samenbanken, Leihmütter die Auswüchse einer Wohlstandsgesellschaft, in der man sich alles kaufen kann - ein Auto, eine Reise, eine Wohnung und am Ende gar ein Kind?

Fragen über Fragen, die eher von Soziologen und Psychologen beantwortet werden können als von Politikern, Juristen und Theologen.
Vor allem aber sollten alle Beteiligten nicht zuerst an die Eltern denken, sondern immer an das Kind. Bei zynischer Betrachtung mag es nämlich gleichgültig sein, wie man sich den Wunsch nach einem Kind erfüllt: Ob über eine Leihmutter, eine schwierige Operation, die die Unfruchtbarkeit korrigiert, oder auf die übliche Weise. Doch was geschieht, wenn das Wunschkind nicht den Wünschen der Eltern entspricht? Wenn es behindert ist oder krank, wenn es plötzlich keiner mehr will, weder die Leihmutter noch die, die es in Auftrag gegeben haben? Oder genauso schlimm• Was geschieht, wenn die Leihmutter die vereinbarte „Ware" nicht mehr hergeben will? Den letzten Preis zahlt dann immer das Kind.

Wie man es also auch dreht und wendet: Bei der Entstehung menschlichen Lebens natürliche Bindungen zu übergehen, ist ein gefährliches Wagnis.



Nicht nur zur Weihnachtszeit

Nachdenken über Kinder

1990 / Weihnachten, das ist das Fest einer Geburt.
Ein Kind steht im Mittelpunkt der Verehrung. Es hat es schwer zu Beginn seines Lebens. Die Eltern sind auf der Flucht, in Bethlehem haust die Familie in einem Stall. Zwar kommen Hirten und Könige, die den armen Leuten unter die Arme greifen, aber an ihrem Elend ändert sich wenig.

Die Armut des Kindes, das in Bethlehem geboren wurde, lenkt den Blick auf die Kinder dieser Welt. Da gibt es die Wohlbehüteten und die Wohlgenährten, die Verwöhnten und Herausgeputzten. Aber da gibt es auch das Heer der Armen, der Waisen, der Ausgebeuteten. Die Zahlen sind erschreckend. Nach Schätzungen arbeiten etwa 100 Millionen Kinder unter entwürdigenden Umständen. Die Entlohnung ist kümmerlich. Immer schlimmer wird das Problem der Prostitution und das der Pornographie. Hier sitzen vor allem Männer der westlichen Welt auf der Anklagebank. Untersuchungen eines Schweizer Instituts haben ergeben, daß die Mißbrauchten immer jünger werden. Diese Kulturschande ist unentschuldbar. Der Entlastungsversuch, der Sextourismus in Ländern der Dritten Welt trage schließlich zu einem bißchen Wohlstand bei, ist dummes Gerede. Das seelische Wohlergehen eines Kindes ist wichtiger als Arbeitsplätze für Kellner, Bardamenund Hotelpersonal, so arm sie selbst sein mögen.

Besonders traurig ist das Schicksal jener Kinder, die geboren werden, um wenig später zu sterben. Täglich erreichen uns Bilder von den Todgeweihten. Somalia, Kurdistan und Bangladesch sind Länder, in denen das Elend zur Katastrophe wird. Hilfe für die Geschun denen ist schwierig. Selbstverständlich können Kleider-, Medikamenten- und Nahrungsmittellieferungen die Not lindern, selbst wenn manches in falschen Kanälen versickert. Aber seit Jahren zerbricht man sich den Kopf darüber, wie das Übel an der Wurzel gepackt werden könnte. 

Der Lebensstandard müßte ganz allgemein gehoben, die ärztliche Versorgung verbessert und die Diskriminierung der Kinder abgebaut werden. Das sind Forderungen, wie sie in den Erklärungen der Politiker immer wieder erhoben werden. Vor zwei Jahren wurde sogar ein „Weltkindergipfel" in Szene gesetzt. Geändert hat sich seitdem freilich nichts. Im Gegenteil: Die Lage der Kinder verschlechtert sich zusehends.
Im reichen Europa stellen sich andere Herausforderungen als in den Armenhäusern der Welt. Hierzulande bedrückt eher der Mangel an Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit der Eltern. Viele berufstätige Frauen sind überfordert. Das heißt, daß die Sozialpolitik noch viel zu leisten hat: Längere Kindererziehungszeiten, stärkere Anrechnung auf die Rente, mehr Erziehungsgeld. Anders sind die Frauen (und die Männer) nicht zu entlasten. Man könnte einwenden, gerade Frauen sollten eben Verzicht leisten und zur Erziehung ihrer Kinder daheim bleiben. Doch die außerhäusliche Berufstätigkeit ist wohl irreversibel. Das liegt zum einen an dem leider geringen Sozialprestige der Nur-Hausfrauen, zum anderen an der für viele bitteren Notwendigkeit, dazuzuverdienen. Schopenhauer hat einmal gesagt: „Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts."

Es geht aber nicht nur ums Geld, das der Staat zur Zeit auch gar nicht hat. Das Wohl der Kinder kann auch anders verbessert werden. Der Nachwuchs gilt oft als lästig und arbeitsintensiv. Viele Kinder sind laut und strapazieren die Nerven. Mehr Verständnis für diese „Unarten" wäre schon ein Fortschritt. Dazu braucht es keine eigene Kinderpolitik, wie sie gern gefordert wird. Solidarität allein mit der Situation von Millionen von Kindern in aller Welt kann zwar kein Leben retten, aber sie ist eine gute Investition in die Zukunft der gesamten Gesellschaft.

Hilferufe
(Auszug aus einem Kommentar von 1978)

Kindheit - das Wort erinnert an Lachen, Fröhlichkeit und unbeschwertes Dasein. Doch heute haben offenbar viele Kinder nichts mehr, worüber sie sich freuen können. Das Leben, das vor ihnen steht, halten sie für nicht mehr lebenswert. Verstrickt in Einsamkeit und unaussprechbare Ängste fliehen sie in den Tod. Allein in einem Jahr nehmen sich in Bayern über 100 Kinder das Leben. Kriminologen, Pädagogen, Psychologen forschen seit längerem nach dem Warum, suchen nach neuen Erklärungen für die bedrückende Entwicklung. Denn die Vorstellung, daß Kinder, die sich selbst umbringen, aus vorwiegend asozialen Verhältnissen stammen müßten, ist nicht mehr zu halten. Diese Kinder kommen aus allen Schichten, kommen auch aus Familien, in denen scheinbar alles in Ordnung ist. Das weiß man seit Jahren. Man weiß auch, daß Selbstmörder meistens gar nicht sterben, sondern nur nicht mit ihren Konflikten weiterle ben wollen. Dafür spricht, daß viele Selbstinordversuche so angelegt sind, daß das Opfer noch rechtzeitig aufgefunden wird. Die Selbstmorde und die Selbstmordversuche sind demnach in der Regel nichts anderes als verzweifelte Hilferufe an die Umwelt. Es sind die Hilferufe von Kindern, denen es nicht gelungen ist, oder deren Umgebung es ihnen nicht gestattet hat, ihren natürlichen Bewegungsdrang, ihre Aggressionen und die für jeden Menschen notwendige Bestätigung seiner selbst zu finden.

Die Unsicherheit vieler Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder, die Unsicherheit auch an den Schulen, wie Kinder denn nun eigentlich nach „ modernen Erkenntnissen "pädagogisch zuführen seien, hat die Situation in den letzten Jahren zusehends verschärft. So leidet die vielfach praktizierte „liberale" Erziehung unter dem Fehler, daß sie von selbstbewußten Jugendlichen ausgeht, die ihre Zukunft allein in die Hand nehmen können.




Zur Neuregelung des elterlichen Sorgerechts

Reine Privatsache?

1978 / Unsere Zeit könnte die beste Zeit für Kinder sein, die es je gab. Schließlich leben wir im „Jahrhundert des Kindes", und 1979 wurde von den Vereinten Nationen zum „Jahr des Kindes" erklärt. Zu keiner Zeit wurden Kinder mehr beachtet, wußten die Erwachsenen mehr über das Wesen von Kindern, über deren Bedürfnisse, über die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen sich Kinder am wohlsten fühlen. In den reichen Staaten des Westens waren auch zu keiner Zeit die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse für eine glückliche Zukunft günstiger: Hunger und Krankheiten sind weitgehend gebannt, es gibt bessere Wohnungen, die Eltern haben immer mehr Freizeit, mit der Pille steigt die Zahl der Wunschkinder, Kinderarbeit ist längst abgeschafft, Kinderzimmer, Kindergärten und Schulzimmer strotzen von förderlichem Lehrmaterial, Heerscharen von Pädagogen und Psychologen füllen mit wissenschaftlichen Arbeiten über das Kind ganze Bibliotheken. Kurzum: Es könnte, sollte, müßte, eine wahre Lust sein, als Kind in dieser Zeit zu leben.

Wirklich eine Lust? Vieles spricht dagegen: Die Kinder- und Jugendkriminalität steigt erschreckend, immer mehr Kinder greifen zu Alkohol und Drogen, begehen Selbstmord, werden im Straßenverkehr verletzt, gelten als verhaltensgestört. Etwa 600 Kinder werden pro Jahr zu Tode geprügelt, 80.000 mißhandelt. Und immer mehr Deutsche finden es angenehmer, sich den Freuden des Wohlstandes hinzugeben als für eigene Kinder materielle Opfer zu bringen. Urlaubsreisen, eine schöne Wohnung und das Auto rangieren vielfach vor dem Wunsch nach dem eigenen Kind. Eine Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie hat ergeben: über 80 Prozent der Befragten meinten, nur kinderlose Ehepaare befänden sich in einer guten Situation und könnten sich deshalb ein schönes Leben leisten.

Die Deutschen - eine Gesellschaft der Kinderfeinde also? Kinderfeindliche Architekten, die ehemals lebendige Stadtteile in Betonwüsten verwandeln, in denen Kinder keinen Platz zum Spielen finden? Kinderfeindliche Bauherren, die die Entwürfe für solche Wohnsilos ausführen lassen? Kinderfeindliche Eltern, die in solche Häuser einziehen und ihren Kindern obendrein noch das kleinste Zimmer, das sogenannte Kinderzimmer zuweisen?
Sie alle sind Mitglieder der Gesellschaft, würden sich aber geschlossen dagegen wehren, wenn man sie als Kinderfeinde bezeichnete. Im Gegenteil: vehement nehmen sie für sich in Anspruch, immer nur das Wohl des Kindes vor Augen zu haben. Und man wird ihnen sogar glauben müssen. Das Problem scheint darin zu liegen, daß es einen offensichtlichen Widerspruch gibt zwischen den Gefühlen der Erwachsenen gegenüber Kindern und dem, was diese Erwachsenen Kindern trotzdem antun. Etwa nach dem Motto: Wen man liebt, den züchtigt man. Beklagen sich Kinder, wird ihnen erstaunt entgegengehalten: „Ich meine es doch nur gut mit dir."

Hier Klarheit zu schaffen, hier mehr die wirklichen Wünsche der Kinder zu berücksichtigen, bemüht sich die Koalitionsregierung seit Jahren. Nach der Reform des Ehe- und Scheidungsrechts, durch das auch die Kinder betroffen wurden, nach der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters von 21 auf 18 Jahre, sol-

len nun die rechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern neu geregelt werden. Aber wie bereits bei den vorangegangenen Maßnahmen auf dem Gebiet der Familienpolitik, stößt der Gesetzentwurf bei der Opposition, bei den Kirchen und in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Bedenken und Widerstand.

In dem 1977 von SPD- und FDP-Fraktion eingereichten Entwurf heißt es unter anderem: „Das elterliche Sorgerecht ist insgesamt zu reformieren. Die geltende Regelung ist veraltet. Es besteht die Notwendigkeit, sie den Wertvorstellungen des Grundgesetzes und den heutigen tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen. Es ist nötig, die elterlichen Rechte und Pflichten neu zu beschreiben, den Schutz gefährdeter Kinder zu verbessern und den Gedanken zunehmender Selbstverantwortlichkeit der Heranwachsenden Rechnung zu tragen. Dabei ist ... entsprechend dem Grundgesetz, die Familie und ihre Selbstverantwortlichkeit zu respektieren, zu schützen und zu fördern. Das von der Verfassung geschützte Elternrecht ist zu beachten. Zugleich ist die dem Staat ... durch das Grundgesetz übertragene Aufgabe zu erfüllen ... Die Pflichtgebundenheit der elterlichen Rechte wird betont. Das Elternrecht wird nicht mehr als Gewaltverhältnis, sondern als Sorgerecht verstanden ... 

Das Vorinundschaftsgericht soll bei einer Gefährdung des persönlichen Wohls des Kindes die erforderlichen Maßnahmen treffen, unabhängig davon, ob den Eltern ein schuldhaftes Fehlverhalten vorzuwerfen ist ... Die Eltern werden verpflichtet, auf den Willen des einsichtsfähigen Kindes Rücksicht zu nehmen. In Angelegenheiten der Ausbildung und des Berufes sollen Begabung und Neigtmg des Kindes berücksichtigt werden."

Selbstverständlichkeiten, möchte man meinen. Warum also überhaupt Streit? Zur Erklärung der Auseinandersetzung muß man aufdie Entstehungsgeschichte der Gesetzesneuregelung zurückgreifen. Ihr Anfang fiel in eine Zeit, in der die angeblichen Errungenschaften der antiautoritären Erziehung in Mode waren. Ihre extremen Verfechter verfolgten unverhüllt gesellschaftsverändernde Absichten, die bis hin zu dem revolutionären Anspruch der Systemveränderung durch Bildung von Klassenbewußtsein mit Hilfe der Erziehung reichten. Seit einiger Zeit hat sich nun erwiesen, daß das gesellschaftspolitische Wunschdenken dieser Gruppen in die Irre führte. Eine große Zahl enthusiastisch begonnener Proj ekte ist gescheitert, andere sind zumindest grundlegend verändert. Selbst die Schrittmacher einer repressionsfreien Pädagogik müssen heute einräumen, daß es nicht geht, antiautoritär erzogene Kinder in eine von Leistung, Verzichtethik und Triebregulierung geprägte Welt ungeschützt zu entlassen.

Obwohl die Antiautoritären stiller geworden sind, ist das Mißtrauen geblieben. Obwohl längst aus dem Gesetzentwurf von 1977 gestrichen ist, daß das Kleinkind ebenso wie der Heranwachsende durch die geltende gesetzliche Regelung „Objekt elterlicher Fremdbestimmung" sei, wird auch der jetzt vorliegende und überarbeitete Entwurf verdächtigt, bewährte Traditionen beseitigen und die Institution Familie zerstören zu wollen.

Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing unter dem Motto „Das Kind zwischen Eltern und Staat - Zur Regelung des Rechts der elterlichen Sorge", bei der ein Überblick über den derzeitigen Stand der Diskussion gegeben werden sollte, hat denn auch der Bundestagsabgeordnete Friedrich Vogel als Vertreter der Opposition noch einmal alle Bedenken vorgebracht und die Notwendigkeit einer Reform der bestehenden Gesetzesbestimmungen grundsätzlich in Frage gestellt. Er unterstellt dem Entwurf „emanzipatorischen" Charakter, ein Begriff der zwar sehr wohl klinge, aber in den vergangenen Jahren an Wohlklang verloren habe. Seine Forderungen: Die Familie muß ihre Eigenständigkeit bewahren. Konflikte müssen von ihr selbst und nicht vom Staat gelöst werden. Wie ein Kind zu erziehen ist, bestimmt die Familie und nicht der Staat. Denn, so die Begründung, auch staatliche Erziehungsbehörden könnten irren, und in diesem Fall soll der Irrtum der Eltern Vorrang behalten. Vogel kann sich hier auf Untersuchungen stützen, nach denen angeblich die Prognosen von Sachverständigen nur in einem Viertel der Fälle zutreffend gewesen sein sollen.

Er bezweifelt auch, ob es überhaupt nötig sei, den Begriff der „elterlichen Gewalt" durch den der „elterlichen Sorge" zu ersetzen. Diejenigen, die behaupteten, der Begriff der „elterlichen Gewalt" sei hinterwäldlerisch und mittelalterlich, verschwiegen nämlich, daß „Gewalt" nicht im Sinne des römischen Patriarchats durch die Rechtssprechung interpretiert werde, sondern im Sinne des Grundgesetzes, wo es in Artikel 6 Absatz 2 heiße: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.

Liest man die Protokolle zu dem Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Elternrecht, so erkennt man in der Tat, daß dessen Schöpfer nicht den prügelnden Vater und die keifende Mutter im Sinn hatten. Vielmehr dachten sie durchaus an fürsorglich waltende Eltern. Das Wort „Gewalt", das sie dennoch in den Gesetzestexten einfließen ließen, hatte für sie eben nur nicht den Reizcharakter, den es für unsere heutigen Ohren hat.
Auch die Begründung der Reformer, der Heranwachsende solle endlich zu einem selbständigen Menschen, zu einem Grundrechtsträger erzogen werden, um so an den Errungenschaften der Demokratie teilzuhaben, hält die Opposition für irreführend. Jeder Jurist im 1. Semester wisse bereits, daß das Kind vom ersten Tag seines Lebens Grundrechtsträger sei, eine darüber hinausgehende Forderung also nur dazu führen solle, die Rechte der Eltern zu beschneiden und die der Kinder zu stärken, während von den Pflichten der Kinder kaum die Rede sei.
Letztlich, und hier reicht der Streit in religiöse Schichten, geht es um die Frage, ob die Familie als Institution gottgewollt ist, ob die Kinder den Eltern von Gott anvertraut sind, oder ob Erziehung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, deren Durchführung vom Staat den Eltern anvertraut wird.

Im zweiten Familienbericht der Regierung von 1975 war noch zu lesen: Die Erziehung des Kindes ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Diese wird auf die Familie übertragen. Verbindliche Erziehungsziele sind zu erstellen, die von den Eltern zu beachten sind. Weiter wurde auf die gefährliche Totalität der Elternbestimmung und auf die fehlende Kontrollierbarkeit ihrer Machtausübung hingewiesen.

Hier schlägt noch deutlich der überspitzte Reformeifer aus den Jahren des „großen Aufbruchs" durch, als man noch glaubte, alles sei machbar, alles müsse geändert werden und wo es sich nicht von allein ändere, müßten Gesetze es erzwingen. Der Familienbericht wird heute von Sozialdemokraten und Liberalen verschämt in der Schublade gehalten. Man ist einsichtiger geworden und hat vor allem erkannt, daß gerade Beziehungen innerhalb der Familie nur sehr zurückhaltend durch Gesetze geregelt werden dürfen. Dennoch hält die Regierung an ihrem Vorhaben fest, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern grundsätzlich neu zu formulieren.



Der zynische Umgang mit den „Senioren"

Die getäuschten Alten

1977 / Die Herausgeber und Sympathisanten des abscheulichen Nachrufes auf den ermordeten Generalbundesanwalt Buback verteidigen das Pamphlet unter anderem mit dem Argument, Gedanken könne man sich schließlich über alles machen. Die Arbeitsmediziner und die Herren des Bundesarbeitsministeriums, die die monströse Idee gebaren, künftig nur noch ältere Menschen mit krebserzeugenden Arbeitsstoffen zu beschäftigen (weil sie vermutlich bereits vor Ausbruch der tödlichen Krankheit gestorben seien), werden voraussichtlich versuchen, sich mit ähnlicher Spitzfindigkeit aus der Affäre herauszuwinden. Man könnte jetzt natürlich endlos über Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt palavern. Viel näher aber liegt die Frage: Wie - um Gottes Willen - können zivilisierte Menschen überhaupt auf solche Gedanken kommen, und wie muß unsere Gesellschaft beschaffen sein, daß sie solche Gedanken hervorbringt?
Eine gesunde Gesellschaft kann es nicht sein. Denn die hat eben - man verzeihe das
Stimmvieh zweiter Klasse abgedroschene Wort - einen pluralistischen Charakter, zerfällt nicht in allerlei abgekapselte Kleinwelten, die einander gleichgültig, wenn nicht gar feindlich gegenüberstehen.

Zu diesen Kleinwelten, die Zahlen sprechen allerdings dagegen, gehören auch die alten Menschen in unserem Land. Von den Politikern als liebes Stimmvieh gehätschelt, sind sie längst zu einer geduldeten, aber belanglosen Kategorie, zu Bürgern zweiter Klasse abgesunken. Und dies trotz der unbestreitbaren Bemühungen, die zahlreiche Organisationen und der Staat anstellen, um den Senioren, wie es heute so schönfärberisch heißt, einen geruhsamen Lebensabend zu verschaffen. Da werden Suppen ausgetragen, werden Greise an die Sonne gekarrt, in Bussen über Land geschaukelt. Und da wird den Alten eingeredet, das Alter könne eigentlich ganz fidel sein. Man müsse sich nur ein Hobby zulegen, potenzfördernde Pillchen schlucken, ein bißchen Gymnastik treiben, fit und schlank bleiben. Möglichst rechtzeitig solle man sich um ein Plätzchen im Altersheim (pardon: Altenheim) bemühen. Denn was sei schöner, als irgendwo am Waldesrand sein Leben zu beschließen?

Alle diese Bemühungen, teils von schlechtem Gewissen getragen, teils von handfesten wirtschaftlichen Interessen, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die alten Menschen im „Jahrhundert des Kindes" nichts mehr gelten. Zwar will ihnen niemand ernsthaft etwas Böses, aber kaum einer will auch etwas von ihnen. Was sie an Erfahrungen gesammelt haben, wird als veraltet beiseitegeschoben. In unserem Lande oft noch mit dem hinterlistigen Vorwurf, wer unter dem Nationalsozialismus nicht den Mund aufgetan habe, solle ihn gefälligst auch jetzt halten. Zudem ist der Respekt vor der Arbeitsleistung verlorengegangen, die in einer anderen, heute altmodisch erscheinenden Welt erbracht wurde, dadurch aber nicht geringer wird.

Auch die Verflüchtigung des Christentums mag zur Geringschätzung des Alters beigetragen haben. Das Sterben ist für den modernen Menschen eine grausige Fatalität, die nicht nur visuell in Sterbekliniken und gekachelte Krankenhaus- Sterbezimmer verdrängt, sondern auch psychisch unter den Teppich gekehrt wird. Anstatt alte Menschen auf ein würdiges Sterben vorzubereiten, wird ihnen bis zum letzten Atemzug etwas vom „sonnigen Lebensherbst", vom „dritten Frühling" vorgegaukelt. Wer heute vom „Adel" des Alters, von der „Majestät" des Todes spräche, wäre schnell als undemokratischer Trottel abgestempelt. Daher klingt auch wie ein Märchen, daß man einer Chinesin früher kein größeres Kompliment machen konnte, als ihr zu sagen, sie sähe wie eine Hundertjährige aus.



Der moderne Analphabetismus

Nicht lesen, nicht schreiben

1987 / Über eine Million Bundesbürger kann nicht lesen und schreiben. Die Zahl ist erschreckend, aber neu ist sie nicht. Bereits Anfang der 80er Jahre wurde von der Öffentlichkeit mit Erstaunen festgestellt, daß viele in unserem Industriestaat mit seiner allgemeinen Schulpflicht Analphabeten sind. Was jahrelang im verborgenen geblieben war, weil die erwachsenen Analphabeten sich scheuten, ihr Unvermögen einzugestehen, kam erst allmählich ans Licht. Unterdessen ist manches geschehen: Man untersuchte die Ursachen des Analphabetismus, erarbeitete Schulungsprojekte und versuchte, den Betroffenen ihre Ängste zu nehmen. Doch wie die neue Erhebung zeigt, ist noch viel zu tun.
Analphabeten sind meist Opfer ihres Milieus. Ihre Lebensgeschichten ähneln sich. Es wird von Kriegswirren berichtet und anderen widrigen Umständen wie Krankheit, zerrütteten Familienverhältnissen, Armut, ständigem Schulwechsel.

Die Therapie ist schwierig, denn die Diskriminierung der Lese- und Schreibunkundigen, die ja keineswegs dumm sein müssen, macht ein Ausbrechen aus dem Getto fast unmöglich. Wer nicht lesen gelernt hat, kann sich nicht aus Zeitungen informieren, keine Stellenangebote studieren, mit keiner Gebrauchsanweisung und keinem Telefonbuch etwas anfangen. Das heißt auch: Den Weg zu den Förderkursen zu finden, gelingt meist nur durch die Vermittlung einer Vertrauensperson. Aber wem denn dürfen die Analphabeten vertrauen?

Hans Magnus Enzensberger hat einmal den Analphabetismus auf originelle Weise kulturhistorisch gedeutet: „Der klassische Analphabet: Er kann nicht lesen noch schreiben, also muß er erzählen. Das Erzählen aber ist der Anfang der Literatur. Der moderne Analphabet: Er kann lesen und schreiben, aber erzählen kann er nicht mehr, er ist zum kopflosen Konsumenten geworden." Bedenkt man zudem, daß viele, die lesen können, dennoch nicht lesen, dann erscheint der wirkliche Analphabetismus in einem anderen Licht.



Lefebre contra Paul VI. - Häresie oder nur ein Scheinkonflikt?

Späte Folgen des Konzils

1976 / Noch kurz vor seinem Tod hat der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Julius Döpfner, öffentlich vor der Gefahr einer Spaltung in der Kirche gewarnt. Seine Mahnung war vergebens. Seit vergangenem Sonntag wird auch in offiziellen kirchlichen Stellen von einem Bruch gesprochen. Anlaß ist das Aufbegehren der sogenannten Traditionalisten um den französischen Erzbischof Lefebvre gegen den in ihren Augen „ketzerischen" Papst.
Bei dem Streit geht es nur vordergründig um die Verbannung der traditionellen lateinischen Liturgie aus dem katholischen Kirchenraum und die Einführung der nationalen Sprachen in den Gottesdienst. Lefebvre und seine Gefolgsleute haben sich vielmehr zu einem grundsätzlichen Kampf gegen die Ergebnisse des II. Vaticanums formiert. Der Bischof hatte schon während des Konzils kein Hehl daraus gemacht, daß er vom kirchlichen „Aggiornamento", von der Anpassung an die Welt von heute, nichts hielt. Besonders lehnte er die zur Grundlage des Ökumenismus gewordene Toleranz gegenüber den nichtkatholischen Christen ab. Daher stellt sich die Frage, ob nicht der Widerstand gegen die neue Messe aus dem heute kirchlich unterdrückten Konfessionalismus stammt, der gestern noch kirchlich verordnet war.

In der Tat haben sich da die Fronten auf eine verwirrende Weise verschoben. Während in der Zeit vor dem Vaticanum die offizielle katholische Kirche scharfe Abgrenzungspolitik gegenüber Nicht-Katholiken und Nicht-Christen betrieb, hat sich die Abwehr heute in die Kirche selbst verlagert. Dabei können sich die Traditionalisten auf nicht von der Hand zu weisende Argumente stützen. Denn wenn ihre Motive wirklich so altmodisch-simpel oder bösartig-renitent wären, wie dies von den sogenannten Progressiven behauptet wird, ließen sich ihre Erfolge kaum erklären. So hat der Besuch des modernisierten Gottesdienstes die Erwartungen, die sich ihre Urheber und Befürworter gemacht haben, kaum erfüllt. Den meisten Protestanten ist die neue Meßordnung immer noch viel zu „römisch", den meisten Jugendlichen, die man mit Reformen zu gewinnen hoffte, immer noch viel zu „traditionalistisch" und „triumphalistisch".

Gerade an diesem Weder-Noch zeigt sich ein grundsätzliches Dilemma der Katholischen Kirche unter Papst Paul VI., der in seiner bisherigen Amtszeit eine für viele Gläubige befremdend schwankende Haltung zwischen Tradition und Moderne bezogen hat. So liegt auch der Verdacht nahe, daß er auf dem Konzil die Taktik verfolgte, den Neuerem durch die Liturgiereform äußerliche Konzessionen zu machen, um in der Theologie konservativ bleiben zu können. Man denke etwa an seine „Pillen-Enzyklika", an seine Einstellung zu Ehescheidung und Abtreibung. Wie sehr er sich dabei selbst in Widersprüche verstrickte, zeigt seine 1972 geübte Kritik an der neuen Taufformel, bei der nach seiner Meinung die Abschwörung vom Teufel zu kurz gekommen sei. Er bekräftigte, daß Satan kein abstraktes Prinzip des Bösen, sondern eine Person sei, übersah aber, daß er diese neue Taufformel selbst verordnet hatte. Die zur Zeit heftig umstrittene Frage des Exorzismus ist ein weiteres Beispiel für eine gewisse Unsicherheit in der kirchlichen Führung, die Gläubige und Geistliehe mitunter ratlos macht.

Auch in der Einschätzung der Riten scheinen sich der Papst und die ihn umgebenden Reformer getäuscht zu haben. Der Entschluß, eine 400 Jahre lang weltweit gültige Liturgie mit dem die Kirche einigenden Band der lateinischen Sprache einfach zu verbieten, hat nämlich zu der Erkenntnis geführt, daß man besser nicht alles auf einmal, sondern nur eines nach dem anderen einführen darf, wenn Verwirrung vermieden werden soll. Dagegen kann sich das Argument gewisser Liturgiker, die Struktur der Messe sei auch in der neuen Form erhalten geblieben, die Messereform gar eine Art Restauration, da sie vielfach auf frühchristliche Traditionen zurückgreife, nur schwer behaupten. Denn letztlich ist auch das Überleben einer Kirche von ihrem Erfolg abhängig. Die ständig steigende Zahl der Kirchenaustritte, der rückläufige Besuch der Gottesdienste sprechen in diesem Zusammenhang für sich.

Das auf manche befremdend wirkende „Erfolgsdenken" wird von Bi schof Lefebvre denn auch geschickt ins Spiel gebracht. Mit Genugtuung verweist er auf die steigende Zahl seiner Anhänger, unter denen sich allerdings auch solche befinden dürften, die, wenn auch spät, ihrem Ärger über die jahrhundertelange autoritäre Haltung des Vatikans Luft machen wollen. Der dabei angeschlagene gehässige Ton wird der Kirche Schaden zufügen; er wird die Kirchenleitung aber auch dazu zwingen, in Zukunft klarere Aussagen über ihren Kurs zu machen.



Der Papst in Deutschland - Erwartung vor einer Pilgerfahrt

Reinigendes Gewitter?

1980 / Nun kommt er also: Papst Johannes Paul II., Stellvertreter Christi auf Erden, Pontifex maximus, Nachfolger Petri, Bischof von Rom und Oberhirte von 800 Millionen Katholiken in aller Welt. Ganze 105 Stunden lang wird er die Bundesrepublik bereisen, wird Hände schütteln, Gottesdienste halten, wird predigen und mahnen. Schwierigkeiten, sich zu verständigen, hat er nicht, Deutsch ist nach Polnisch Karol Wojtylas zweite Sprache. Werden aber auch ihn alle verstehen? Wollen ihn alle verstehen?
Zweifel sind angebracht, denn die Entwicklungen der letzten Wochen haben klargemacht: Im Land Luthers, in dem die beiden großen christlichen Konfessionen gleich stark vertreten sind, wird ihm nicht brasilianischer Jubel entgegenschlagen. Als „neuer Messias" wurde er dort gefeiert, als „Wikinger Gottes", der Neugierde und religiöse Sehnsüchte weckte. In Deutschland ist nicht nur das Wetter kühler. Auch die Menschen stellen kühlere Fragen, wollen kühlere Antworten. Etwas von diesem frischen Wind aus dem Norden hat der Papst schon zu verspüren bekommen. Da wurde herumgemäkelt an den hohen Kosten für die Reise. Da rieb man sich an protokollarischen Feinheiten, da ging es aber auch um tiefgreifende theologische Gegensätze.

Die katholischen Bischöfe in der Bundesrepublik, allen voran Kardinal Höffner von Köln, haben diese kritische Grundstimmung offenbar zu spät erkannt. Sie erhofften sich wohl, der Papst werde auch in ihrem Land auf einer Via triumphalis wandeln. Die Vorbereitungen für den hohen Besuch fielen entsprechend aus:
Jefit-Merle:FP an Maccenveranctaltnnuen da O.P-
gen herzlich wenig Zeit für das pastorale Gespräch. Fast möchte man annehmen, die Hirten hätten die Ankündigung ihres Oberhirten überhört, er komme als Pilger, als Nachfolger des so oft und so weit im Dienst des Evangeliums gereisten Apostel Paulus.

Der Papst hat die Fehleinschätzung des deutschen Episkopats allerdings selbst durch Einschätzungen während seines zweijährigen Pontifikats begleitet, die nicht gerade dazu angetan sind, die gedämpfte Stimmung lediglich auf organisatorische Mängel seiner Reise zurückzuführen. Die ständige Verurteilung der sündigen Sexualität, der bösen Begehrlichkeit und der ungesunden Fleischeslust wirkt in einer Welt der Kriege, des Flüchtlingselends, des Hungers und der Unterdrückung denn doch etwas weltfremd. Steht denn, so möchte man fragen, der begehrliche Blick auf die Ehefrau im Katalog der Sünden wirklich so an prominenter Stelle?

Freilich: Die katholische Kirche sollte dem Zeitgeist nicht huldigen, denn sie steht im Dienst der Ewigkeit. Und es ist leicht, jemanden als „ewig gestrig" zu verurteilen, der immerhin eine zweitausendjährige Institution leitet. Johannes Paul braucht da keine Rechtfertigung. Seine Homilien gegen Rassendiskriminierung, Neokolonialismus und ökonomische Ausbeutung waren vielversprechende Zeichen der Hoffnung. Das sollte nicht von denen übersehen werden, die sich an seinem Widerstand gegen Ehescheidung, Geburtenregelung, Schwangerschaftsunterbrechung, Abschaffung des Zölibats und an seiner betonten Marienverehrung reiben. Auf diesem Gebiet kann dieser Papst, der trotz seiner zur Schau gestellten Fröhlichkeit eher ein nachdenklicher, zur Melancholie neigender Mensch ist, eben nicht aus seiner Haut. Hier steht er auch in der Tradition seiner Vorgänger. 

Daß für Johannes Paul die Frage der Ökumene nicht an oberster Stelle steht, sollte nicht nur als Nachteil, sondern auch als Chance begriffen werden. Denn mit den Höflichkeiten allein, die nach dem II. Vaticanum zwischen den beiden Konfessionen ausgetauscht wurden, ist es nicht getan. Erst wenn beide Seiten das „Anderssein" in seiner ganzen Tiefe anerkannt haben, können Gemeinsamkeiten aufgebaut werden. Sich vor dem Streit um die Wahrheit zu drücken, bringt keinen Nutzen. So gesehen könnten die Gereiztheiten katholischer und evangelischer Christen (wobei deren Bischöfe gelegentlich mehr taten, als dem Kirchenvolk lieb war) wie ein reinigendes Gewitter wirken. Der bevorstehende Besuch des Papstes hat zur Bekräftigung der eigenen Identität herausgefordert. Das ist gut so. Nur wer sich selbst kennt, kann den anderen kennenlernen.



Der Papst in Deutschland (II): zwischen Enthusiasmus und Enttäuschung

Gefühle und Grenzen

1980 / Kein Zweifel: Papst Johannes Paul II. hat die Gabe, Menschen mitzureißen. Sein Charisma was immer das auch sein mag - hat Millionen in der Bundesrepublik über den Alltag hinausgehoben. Selbst „getrennt lebende Brüder" und „laue" Katholiken konnten sich seinem Fluidum nicht entziehen. Eine Woge der Wärme und Güte schwappte in den vergangenen Tagen über ein sonst wenig christliches Land. Das Fernsehen brachte in alle Stuben der Republik Bilder der Rührung und Ergriffenheit. Man erlebte einen segnendenundpredigenden Papst, der mit seiner kräftigen Stimme an die 50 Ansprachen über Ehe und Familie, über das Verhältnis von Kirche und Staat, über Theologie, über das Leben der Orden, über die Ökumene, über das Leid der Behinderten, über Kunst, über Medienund die Jugendhielt. Poststreik und Ostpolitik, Koalitionsverhandlungen und die Sicherheit der Renten verblaßten angesichts der Worte aus Rom zu Nebensächlichkeiten. Ein Sturm des Gefühls erfaßte unser sonst von Zahlen und Statistiken beherrschtes Land. Gegensätze zwischen den beiden großen Konfessionen in Deutschland versanken vordergründig in Jubel und bemühter Übereinstimmung. Auch viele, die ihre Religion lieber im Stillen leben und mit Papst und Kirche nichts oder nicht viel im Sinn haben, blieben nicht ungerührt vom Phänomen „Wojtyla". Allerlei Sehnsüchte bündelten sich zu einer Mischung aus verschütteten Hoffnungen, aus tiefem Glauben und oberflächlicher Sensationslust.

Es wird noch lange dauern, bis man eine endgültige Bilanz des Papstbesuches ziehen kann. Aber schon heute steht fest: der Papstbesuch hat viele Erwartungen enttäuscht. Zwar lief die Begegnung mit der evangelischen Kirche in Deutschland im Geist der Brüderlichkeit ab. Gräben wurden aber nicht übersprungen. Der Papst blieb bei allen Floskeln der Versöhnung dabei, daß zuerst die „volle Einheit in Glaubensfragen erreicht sein müsse, bevor man sich an einen Tisch des Herrn gemeinsam versammle".

Freilich: es war nicht zu erwarten, daß sich der Papst auf seinem Thronsessel zurücklehnte und verkündigte, er trete von seinem Amt zurück. Doch seine Äußerungen zur Gemeinsamkeit mit den evangelischen Christen wirkten bei aller Gemeinsamkeit nicht zündend. Und die Bildung einer Kommission zwischen Katholiken und Protestanten sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade die Bildung von Kommissionen eher eine Verlegenheitslösung ist denn ein Aufbruch zu neuen Ufern.

Papst Johannes Paul II. hat sich in Deutschland bemüht, Gräben nicht weiter aufreißen zu lassen. Aber in allem, was die Zukunft betraf, blieb er merkwürdig blaß. Seine Reden kamen oft nicht über den Duktus eines x-beliebigen Kaplans hinaus. Und die großen Teilnehmerzahlen an den Gottesdiensten sollten niemanden darüber hinwegtäuschen, daß nur eine kleine Teilnehmerzahl des deutschen Katholizismus dabei war. Kälte, Nässe und Fernsehbequemlichkeiten allein erklären das nicht. Vielmehr gilt: seit vielen Jahren leert sich die Kirche in der Bundesrepublik. Und nun ist deutlich geworden, wie leer sie schon ist. Dem Papst allein die Schuld daran zu geben, wäre ungerecht. Er hat sich redlich bemüht, Barrieren zu überspringen. Doch darf nicht übersehen werden, daß er eingebunden ist in eine Kirche, die einen weltweiten Anspruch zu vertreten hat. Die deutschen Bischöfe machen es ihm dabei nicht leicht. Seit dem Tod von Kardinal Döpfner setzen sie wieder verstärkt auf die Macht eines zentralistischen Rom, ohne dabei zu bedenken, daß viele Hoffnungen und Wünsche der Basis unter die Räder geraten.

Johannes Paul II. schien während seines Deutschlandbesuches des öfteren ein Gefangener dieser Konzeption zu werden. Er fand nicht die Kraft und den Mut, sich aus den Fesseln zu lösen.




Eine Begegnung mit protokollarischen Feinheiten in Brühl bei Bonn


Papst und Kanzler im Lustschloß

1986 / Erica Pappritz, einst erste Protokolldame der Bundesrepublik, die den Bonner Politikern der ersten Stunde Schliff und Benimm beibrachte, hätte in ihrer resoluten Art vielleicht Rat gewußt. Ein Papst zu Besuch - die gestrenge Frau mit dem kleinen Schleierhütchen wäre um eine Lösung der vertrackten Etiketten-Probleme sicher nicht verlegen gewesen. Damals allerdings, als Bonn erst das Gehen auf dem spiegelglatten Parkett zu lernen begann, lagen die Dinge noch einfacher. Frau Pappritz ordnete einfach an, Adenauer fügte sich und mit ihm die Herren und Damen der „provisorischen" Bundeshauptstadt. Heute tut man sich schwerer. Die Politiker sind „feiner" geworden und mit ihnen die politischen Sitten.

Seit Wochen steht den Protokollbeamten in Bonn der Schweiß auf der Stirn, denn in ihren Kollegen aus dem Vatikan haben sie Verhandlungspartner, die ihresgleichen suchen. Dort hat sich nämlich in Jahrhunderten eine Etikette herausgebildet, mit der eine junge Republik nur schwer konkurrierenkann. Hinzu kommen beim Papst-Besuch politische Feinheiten besonderer Art. So hätten die deutschen Bischöfe die Begegnung Johannes Paul II. mit dem Bundeskanzler am liebsten auf einen Händedruck reduziert. Doch so wollte sich Helmut Schmidt nicht abspeisen lassen. Er bestand auf einer Unterredung. Nach langem Hin und Her einigte man sich auf ein tete-ä-tete am Rande des Empfanges, den Bundespräsident Carstens dem Papst im Schloß Augustusburg bei Brühl gibt. Die geladenen Damen - wir berichteten
bereits - haben zu diesem Ereignis „bedeckt" zu erscheinen. Der Papst, der den Ehemännern nicht einmal einen begehrlichen Blick auf die eigene Frau gestatten will, verbat sich den Anblick nackter Haut.

Kurfürst Clemens August aus dem Hause Wittelsbach, der gegen seinen Willen Erzbischof von Köln wurde, war da weniger pingelig. Er ließ sich die alte Augustusburg zu einem sinnenfreudigen Lustschloß ausbauen, mit Paradeschlafzimmer, mit Spiegeltüren und einem Treppenhaus, das von dem berühmten Balthasar Neumann entworfen wurde. In dem Barock-Palais empfing er Höflinge und Mätressen zur Jagd, zu Tanz, Spiel und Maskenball. Unter seinen Gästen befand sich im Jahre 1760 ein gewisser Casanova, dem in der luxuriösen Umgebung „ein üppiges Abenteuer gelang". Die Rede ist von der „Verführung der Bürgermeisterin von Köln".

Wenn Graf Finckenstein, Bonner Protokollchef, den Papst in einen der vier von Francois Cuvillis gestalteten Räume des Schlosses zu dem auf etwa eine halbe Stunde terminierten Gespräch mit dem Bundeskanzler geleiten wird, sind diese Histörchen natürlich nur graue Historie.





Das Sakrament der Ehe - Beispiele aus Monaco und München

Recht und biblische Botschaft

1982 / Das päpstliche Gericht prüft zur Zeit, ob die Ehe zwischen Caroline von Monaco und Philip nach den kirchenrechtlichen Vorschriften getrennt werden kann. Ein Grund für die Auflösung der Gemeinschaft auch vor Gott wäre die Zeugungsunfähigkeit von einem der Partner. Als Umkehrschluß dieser Bestimmung ergibt sich, daß die katholische Kirche nur dann Ehen schließt, wenn die Zeugungsfähigkeit gegeben ist. Daher hat sich jetzt ein Pfarrer in München geweigert, zwei behinderte Menschen zu trauen. Fälle dieser Art kommen immer wieder vor und zeigen, wie eine kirchliche Rechtsvorschrift, die eigentlich das Kirchenmitglied schützen sollte, der Botschaft Christi zuwiderläuft.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß die katholische Kirche im Prinzip für die Gültigkeit einer Ehe den Willen zum Kind und damit die geschlechtliche Verbindung als Voraussetzung betrachtet. Diese dem Naturrecht entlehnte Betrachtungsweise erlaubt auch den Zugang zum Priesteramt nur unter der Annahme der Zeugungsfähigkeit des Anwärters. Priestertum und das Sakrament der Ehe fordern danach die volle Funktionsfähigkeit des Menschen. Aber spricht sich die biblische Botschaft nicht auch für die Unvollkommenen und Schwachen aus? Soll der Wunsch zweier Behinderter nach einer kirchlichen Ehe geringer geachtet werden als die vielen gedankenlos geschlossenen Ehen, die die Möglichkeit der Scheidung von vornherein einkalkulieren? Jedenfalls bleibt ein ungutes Gefühl, auch wenn das Erzbischöfliche Ordinariat versichert, die Entscheidung des Pfarrers sage natürlich nichts über den Wert behinderten Lebens aus. Wirklich nicht?

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Der Fall Drewermann: Die Kirche bricht mit einem populistischen Häretiker

Ein Provokateur muß gehen

1991 / Eugen Drewermann ist ein Provokateur. Seit Jahren liegt der Theologe, Priester und Erfolgsautor mit der Kirche im Streit: jetzt ist ihm die Lehrerlaubnis entzogen worden. Ist die Entscheidung ErzbischofDegenhardts gerechtfertigt, ist sie klug oder äußert sich in ihr eine Unbeweglichkeit des Denkens?

Drewermann sieht sich in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche als „Jungfrau von Orleans", sein Auftreten und seine Wortwahl sind entsprechend dramatisch. Schon dies reizt wahrscheinlich seine Gegner. Eine Institution, die zweitausend Jahre als ist, und die trotz mancher katastrophaler Schläge letztlich überlebt hat, muß die populistischen und gelegentlich geschmacklosen Äußerungen des Priesters als unangemessen empfinden.
Zur saloppen Art kommt eine Argumentation, die Drewermann nicht gerade als einen tiefschürfenden Mann ausweist. Weder sein Anrennen gegen die katholische Lehre der Jungfrauengeburt noch die Behauptung, Jesus habe keine Priester eingesetzt, sind besonders originell. In der Abtreibungsproblematik schließlich vertritt er, der schließlich Priesteramtskandidaten ausbildet, eine Meinung, der die Kirche aus ihrer Sicht nun einmal auf keinen Fall zustimmen kann.

Drewermann steht es selbstverständlich frei, die Kirche zu kritisieren, auch polemisch. Nur darf er vernünftigerweise nicht erwarten, daß ihn diese Kirche alimentiert. Keiner Organisa-
tion, auch keiner religiösen, kann zugemutet werden, ihre Überzeugungen derart aufs Spiel zu setzen.


Drewermann ist ein Prototyp unserer Zeit. Populär und plakativ will er dem Publikum letzte Fragen erläutern. Das klingt immer sehr kritisch und aufklärerisch. Ob aber seine psychotherapeutischverbrämten Thesen der Wahrheit wirklich näher kommen, ist fraglich. Ganz zu schweigen davon, daß die katholische Kirche ihre Kraft zu einem guten Teil aus dem Glauben zieht.



Die Kölner Affäre und das preußische Konkordat von 1929:
Vor der Wahl von Kardinal Meisner

Domherren auf dem Holzweg

1988 / Als der Papst 1980 Köln besuchte, waren Hunderttausende auf den Beinen. Die Menschen jubelten, schwenkten Fähnchen, riefen immer wieder: Er küt, er küt! Im Dom nahm Johannes Paul II. auf einem Stuhl Platz, der nur für den Pontifex Maximus bestimmt ist. In der deutschen Kirchengeschichte ist diese Einrichtung einmalig. Ähnliches gibt es nur in Aachen. Damals achtete niemand auf den dem Papststuhl gegenüberliegenden „Kaiserstuhl". Beide Plätze symbolisieren die Macht von Kirche und Staat im Mittelalter. Nur einmal waren beide Stühle gleichzeitig besetzt: 1049, als Leo IX. und Heinrich III. gemeinsam das Fest der Apostelführer Petrus und Paulus feierten.

Warum dieser Ausflug in die Geschichte? Er erinnert an den „Investiturstreit", der jedem Schüler den Schweiß auf die Stirne treibt, und er leitet über zu der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Besetzung (Investitur) des Kölner Bischofsstuhls. Hat sich, so könnte man überspitzt fragen, seit tausend Jahren nichts geändert?

Grundsätzlich gilt: Theoretisch darf der Papst alles. Als absoluter Herrscher - der Vatikan ist
Geschichtliche Wurzeln ein monarchischer Staat - kann er Recht aufstellen, Recht durchsetzen und Recht sprechen. Gerade bei der Besetzung von Bischofsstühlen, einem sakralen Akt, braucht er im Grunde aufniemanden zu hören. Diese starke Stellung ist Ausdruck des hierarchischen Aufbaus der katholischen Kirche und ihres Glaubensverständnisses.

Nun ist allerdings der Investiturstreit nicht ohne Folgen für Rom ausgefochten worden. Gerade in unserem Jahrhundert wurde der römische Primat durch Konkordate, die der Vatikan 1924 mit Bayern, 1929 mit Preußen, 1932 mit Baden und 1933 mit dem Deutschen Reich schloß, rechtsverbindlich modifiziert. Diese Verträge beschneiden zwar nicht die Rechte des Papstes, aber sie wahren aufgrund alter, auch theologisch zu begründender Traditionen gewisse Mitwirkungsrechte der Kirchen, der Gläubigen und der Kirchenprovinzen mit ihren Domkapiteln und Bischöfen.

Dieses Zusammenspiel, in das auch staatliche Stellen einbezogen sind, hat bisher funktioniert, zumindest drangen Zwistigkeiten nicht an die Öffentlichkeit. Seit dem Tod des Kölner Kardinals Höffner ist alles anders. Papst und Domkapitel können sich nicht auf einen beiden Seiten genehmen Nachfolger einigen. Die Emotionen gehen hoch, die Kölner fühlen sich überfahren, der Vatikan pocht auf seine Rechte, die Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mischen sich als Rechtsnachfolger aus dem preußischen Konkordat in die Diskussion ein. Kurzum: Es herrscht heilloses Durcheinander.

Schuld daran haben in erster Linie das Kölner Domkapitel, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Schaut man sich nämlich die Bestimmungen des preußischen Konkordats genau an, dann ergibt sich kein Wahlrecht des Domkapitels, sondern lediglich ein Mitwirkungsrecht bei der Auswahl eines Kandidaten.

Nach Artikel 6 des Konkordats reicht das Domkapitel im Falle der Vakanz eines Bischofsstuhls dem Papst eine Liste von kanonisch (kirchenrechtlich) geeigneten Kandidaten ein. Der Heilige Stuhl prüft und würdigt diese Liste. Danach benennt er dem Domkapitel drei Personen, aus denen es in freier und geheimer Wahl den Bischof zu wählen hat.

An diesem Punkt entzündet sich der Streit. Das Domkapitel meint, der Papst könne seine Dreierliste nur aus Namen zusammenstellen, die auf der Kölner Vorschlagsliste gestanden hätten. In Rom ist man dagegen der Auffassung, völlig frei entscheiden, also auch neue Kandidaten ins Spiel bringen zu können.

Wer hat nun recht? Nach dem Wortlaut des Konkordats „hat" das Domkapitel aus den drei Personen zu wählen, die ihm der Papst vorschlägt. Von einer Pflicht des Papstes, die Vorschläge des Domkapitels zu berücksichtigen, ist mit keinem Wort die Rede.

Gestützt wird dies durch die Erklärung, die die preußische Regierung dem preußischen Landtag zum Konkordat vorlegte. Darin heißt es: „Der Heilige Stuhl verpflichtet sich, diese Vorschläge, ohne im übrigen auf sie beschränkt zu sein, so zu würdigen, daß er die dem Kapitel zu benennenden Personen möglichst aus ihnen entnehmen wird".

Bleibt als Fazit: Der Papst mag undiplomatisch vorgegangen sein, ohne Rücksicht auf das Selbstbewußtsein gerade der deutschen Bistümer, wie es sich im Lauf der Geschichte herausgebildet hat. Doch die Domherren haben sich übernommen Sie pochen auf einen Vertragstext, der ihre Ansprüche nicht deckt. Mehr noch: sie verletzen ihre Vertragspflicht, wenn sie keinen Bischof aus der Dreierliste wählen. Ihr Einwand, der Vatikan habe eine „wählbare Liste" vorzulegen, verkehrt die im Konkordat festgelegte Regelung geradezu in ihr Gegenteil. So gesehen könnte das Domkapitel entscheiden, wer Bischof wird - eine verwegene Interpretation, die weder vom Wortlaut noch vom Geist des Konkordats gestützt wird. Dies um so mehr, da der Papst ja unanfechtbare Vorschläge gemacht hat: Kardinal Meisner von Berlin, B i schof Dyba von Fulda und der in Rom lebende deutsche Bischof Cordes.

Schlecht beraten sind auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Rau und der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, zu Beginn des Streites Bernhard Vogel, seit kurzem sein Nachfolger Carl-Ludwig Wagner. Ihre Länder sind an der Besetzung des Kölner Erzstuhles insoweit beteiligt, als sie staatliche Partner des Konkordates sind und das Recht haben, Bedenken politischer Art gegen die für das Amt vorgesehene Person zu erheben. Da aber bisher noch niemand gewählt wurde, sind Düsseldorf und Mainz überhaupt noch nicht gefordert. Was also sollen die mit drohendem Unterton vorgetragenen Erklärungen, man werde notfalls über eine Neubewertung des Konkordates nachdenken?


Alles in allem haben das Domkapitel und die involvierten Ministerpräsidenten keine gute Figur gemacht. Sicher, es mag ärgerlich und betrüblich sein, daß der Papst einen Mann zum Erzbischof ernennen will, der in Köln keinen Anklang findet, aber das Konkordat stützt sein Vorgehen, so unsensibel es auch ist.



Evangelische Kirchentage - Jahrmärkte der Möglichkeiten?

Der Welt verfallen


1977 / „Lobt Gott im frischen Fahrtwind." Unter diesem Motto versammelten sich die Motorradfahrer des Evangelischen Kirchentages in Berlin zu einem Gottesdienst . Auf dem „Markt der Möglichkeiten" gab es für alle etwas. Energiesparer forderten die Reduzierung des Wäschewaschens, die Ex-Juso-Vorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul konnte ihre Zugehörigkeit zur Kirche verteidigen, derNichtseßhaften wurde gedacht, Amnesty International wies anklagend auf die Verletzung der Menschenrechte in Lateinamerika hin, Jugendliche durften auf riesigen Luftkissen hopsend ihre Aggressionen abreagieren.

Mit dem alten Hang, der Welt und der Zeit zu verfallen, geriet der Kirchentag gelegentlich in die peinliche Nähe eines Happenings. Glühenden Auges beschäftigte man sich mit Themen, die eher in den Aufgabenbereich der UN, des Roten Kreuzes oder des Tierschutzvereins gehören. Von der Stetigkeit, Kompromißlosigkeit, Spiritualität der Kirche war wenig zu spüren. Eine theologische Demimonde zeigte die evangelische Kirche mehr als ein Gummigebilde denn als den „Fels in der Brandung".

Da man nicht von gestern sein wollte, gab man sich selig linkem Gedankengut hin, liebäugelte mit dem Kommunismus, in der trügerischen Hoffnung, somit der Flut der Kirchenaustritte Einhalt gebieten zu können. Das Modewort vom Pluralismus machte die Runde.

Die bibel- -und bekenntnisgebundenen Gruppen, die sogenannten Evangelikalen, haben sich wegen dieser modernistischen Tendenzen von vornherein vom Kirchentag distanziert. Für sie ist theologischer Pluralismus Wegbereiter für einen „Glaubenskrebsgang", bei dem die christliche Botschaft in gefährlichem Maße ins Belieben des einzelnen gestellt wird. Auch aus politischen Gründen blieben sie dem Kirchentag fern. Sie monieren den von dem Theologen Gollwitzer - einem der Hauptredner des Kirchentages - geprägten Satz, wonach jeder Christ auch Sozialist sein müsse.
Selbstverständlich muß eine Kirche von dieser Welt sein, aber sie darf sich nicht dazu verleiten lassen, den tiefen Graben zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen zu leugnen. Sie darf ihre Hand nicht dazu leihen, daß Farblose die Farbe bekämpfen. Sie darf nicht zulassen, daß die „Humanismus"-Schwätzer die „schreckliche christliche Wahrheit" (das Gebot der Transzendenz) mit ihrer Erdlastigkeit verwischen.

Gerade der andere Weg wäre hier richtig. Denn: Ein Kirchenmitglied verläßt seine angestammte Gemeinde in der Regel nicht, weil sie anders ist als die ihn umgebende Welt, sondern weil sie dieser Welt immer ähnlicher und damit überflüssig wird. Die evangelische Kirche würde daher wahrscheinlich aus ihrer Krise besser herauskommen, wenn sie sichmehr dem Ausruf der großen katholischen Heiligen, Therese von Avila: „Dios o Nada" - „Gott oder nichts" - verschiebe, als mit sozialistischem undpsychologischem Kauderwelsch den Gläubigen um den Bart zu gehen.

Energie- und Ostpolitik werden auf die Dauer den wirklich Suchenden kein Ersatz sein können für die brennenden Fragen des Glaubens. Mit theologischem Pluralismus kann man zwar Zehntausende zu fröhlichem Beisammensein zusammenführen, die große Möglichkeit der Glaubenshilfe und Glaubensvergewisserung wird dabei allerdings vertan. 

Daher sollte sich die evangelische Kirche wieder an ihren Schöpfer Luther erinnern, dessen Standfestigkeit in Fragen des Glaubens über Jahrhunderte ihre Stärke ausmachte: „Ich steh hier und kann nicht anders.




Gehorsam und Liebe - zwei Gegenpole in der katholischen Kirche

Besinnung auf den Glauben

1985 / Rund 800 Millionen Katholiken oder mehr leben auf der Welt: arme und reiche, gebildete und ungebildete, gläubige und skeptische, schwarze und weiße, gelbe und rote. Probleme der Katholiken in Ländern mit verschiedenen Konfessionen - Mischehe, gemeinsames Abendmahl oder die religiöse Erziehung der Kinder - sind anderswo reine Theorie, so wie reine Theorie die Theologie der Befreiung etwa hierzulande ist. Um es salopp zu sagen: Die katholische Kirche ist in den vergangenen Jahrzehnten ein geistiger „Multi" geworden. Selbst geographisch benachbarte Katholiken tun sich schwer miteinander. So gehen etwa die Holländer andere Wege als ihre deutschen Glaubensbrüder, denen wiederum die polnische Mischung aus Nationalismus und Religion fremd ist.

Die Einheit trotz der Vielfalt zu wahren, wird immer schwieriger. Zwei Richtungen stehen sich gegenüber: Zentralismus und Föderalismus. Diese der Politik entlehnten Begriffe sind zwar nicht ohne weiteres auf eine geistige Institution anzuwenden, eignen sich aber dennoch, das Grundproblem zu umreißen.

Auf der Bischofssynode in Rom lassen sich die beiden Richtungen personell festmachen. Kardinal Ratzinger, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, denkt römisch. Die Gefahr für die Kirche sieht er in einer Zerfransung an den Rändern. Die Beliebigkeit in Glaubensfragen ist ihm ein Ärgernis. Der ehemalige Erzbischof von München und Freising will die „una sancta ecclesia" nach hierarchischem Muster regieren - mit dem Papst an der Spitze und mit Bischöfen, die ihre Legitimität auf diesen Papst gründen.

Andere dagegen, die etwa im brasilianischen Kardinal Aloisio Lorscheider einen ihrer Wortführer haben, setzen auf die Kirche von unten, auf die Kraft der Vielfalt und auf die Kollegialität der Bischöfe - also auf mehr Demokratie.

Da die Demokratie in der weltlichen Welt politisch als Maß aller Dinge gilt, findet sie auch in der katholischen Kirche zusehends Anhänger. Doch historisch und theologisch betrachtet, entspricht die Demokratie nicht dem katholischen Selbstverständnis. Die gern vorgebrachten Hinweise auf einen angeblichen Urkommunismus, der in der Bibel auszumachen sei, helfen da nicht weiter. Nein: Jesus hat Gesetze gesetzt, Bischöfe und Päpste haben sie fortentwickelt. Kaum etwas ist in der katholischen Kirche aus der Kollegialität entstanden. Und wenn es denn nicht mehr zu vermeiden war, dann eher der Not gehorchend. So geschehen auf den Konzilen, die stets nur Reaktionen auf Krisensituationen waren.

Das galt auch für das II. Vaticanum. Johannes XXIII. hat es ja nicht einberufen als Demonstration der Macht und des Glanzes, sondern weil er erkannt hatte, daß die Kirche neuer Anstöße bedurfte, um in einer veränderten Welt überhaupt zu bestehen. So gesehen sind die Unterschiede zwischen ihm und Johannes Paul II. nicht so groß wie gern behauptet wird. Johannes XXIII. war kein demokratisch denkender Papst, sondern lediglich ein aufgeklärter Monarch nach dem absolutistisch regierenden Pius XII.

Es ist daher oberflächlich, grundsätzliche Gegenpositionen aufzubauen und etwa Ratzinger und dem ihm wohlgesonnenen Papst zu unterstellen, sie steuerten die Kirche in eine dumpfe Restauration. Geht es ihnen nicht vielmehr darum, die Kirche wieder verstärkt als eine Gemeinschaft der Glaubenden vorzuführen - mit allen unbequemen Anforderungen, die sich daraus ergeben? Man mag das weltfremd empfinden in einer Zeit, in der die Dinge nach Ursache und Wirkung beurteilt werden. Doch die katholische Kirche bezieht ihre Stärke eben nicht in erster Linie aus dem Denken, sondern aus dem Glauben. Und Glauben fordert Gehorsam, denn die unbefleckte Empfängnis Mariens ist vom Verstand her ebenso wenig zu fassen wie die Unfehlbarkeit des Papstes in kirchlichen Fragen.

Woran es den Hütern der katholischen Lehre allerdings gelegentlich fehlt, das ist die christliche Liebe. Allzu strikt fordern sie Gehorsam von den Zweiflern, allzu strikt grenzen sie sich ab von Andersdenkenden. Hier neue Akzente zu setzen, hätte nichts mit einer Reform, wohl aber mit einer wahren Restauration der christlichen Botschaft zu tun.

Gehorsam und Liebe - zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die katholische Kirche seit jeher. Diese Pole neu auszubalancieren, wäre die vordringliche Aufgabe der Synode in Rom.



Über den Versuch, im Gerichtssaal eine antike Tragödie zu schaffen

Ingrid van Bergen und Rolf Bossi

1977 / Rolf Bossi, der sogenannte Staranwalt, trägt seinen ihm von der Presse und von seinen Mandanten verliehenen Titel im Prozeß gegen Ingrid van Bergen zu Recht. Denn diesmal verteidigt er wirklich einen Star. Mit Redewendungen, die einem Hollywood-Film der 50er Jahre entstammen könnten, kämpft er für die „Kollegin". Daß der ermordete Klaus Knaths in der Nacht seines Todes nicht rechtzeitig nach Hause kam, seine Geliebte am Telefon immer wieder vertröstete, gerät ihm dabei zum „Schicksal, das bereits als Wetterleuchten am Himmel steht".

Herr Bossi hat zwar recht, wenn er mit eindringlicher Stimme daraufhinweist, daß die Wahrheit oft verschlüsselt ist. Nicht recht hat er allerdings, wenn er aus einem im Grunde genommen alltäglichen Fall eine antike Tragödienkonstellation basteln will. Dazu nämlich eignet sich weder seine Mandantin noch die gesamte Entourage dieses Verfahrens. Alle Beteiligten bewegten sich zumindest bis zur Tat auf einem Niveau, das so herausragend nicht ist. Sie lebten ein Leben wie viele andere auch. Erst die tödlichen Schüsse brachten an den Tag, was sich so allgemein hinter großen Sonnenbrillen verbergen kann.

Deswegen dürfte auch das öffentliche Interesse an diesem Verfahren so groß sein.

Das Exemplarische übt hier seinen Reiz aus. Erst die Ahnung, daß es Tausende Ingrid van Bergens und Tausende vom Schlag eines Klaus Knaths gibt, verursacht jenes schaurig-wohlige Prickeln.
Man nennt das Emanzipation. Daher haben auch jene sogenannten Intellektuellen nicht
recht, die sich über den interessierten „Pöbel" mokieren. Der spürt nämlich deutlicher als mancher Fachmann, wo's in der Schickeria stinkt. Und er spürt, daß deren Gesetze immer mehr allgemeine Anwendung finden.

Sabine Knaths hat während ihrer Aussage erklärt, sie sei immer dafür gewesen, dem Partner Freiheiten zu gewähren. Auch auf sexuellem Gebiet. Man nennt das heutzutage Emanzipation. Frau Knaths will es auch so gewertet wissen: Bloß nicht spießig wirken, bloß nicht in den Geruch der Bürgerlichkeit geraten. Was könnten da die Freundinnen denken. Der „Pöbel" denkt noch anders. Für ihn gibt es noch so etwas wie Disziplin. Klimakterium hin oder her.

Rolf Bossi kennt diese moralische Forderung. Und so versuchter, aus seiner Mandantin eine Frau von Charakter zu machen. Er spricht von ihrer fast übermenschlichen Disziplin während der Verhandlung, weist auf die äußere Gelassenheit hin, mit der sie den Strafantrag des Staatsanwaltes aufgenommen habe. Nur wenige Eingeweihte hätten gewußt, daß sie die Verhandlung nur mit einer täglichen Beruhigungsspritze habe überstehen können. In „Selbsterstarrung" habe sie vor Gericht keine „billigen Gefühlsregungen" gezeigt. Er redet sogar von den Ostpreußen, die schon von Haus aus ein eigenartiger Menschenschlag seien.

Sicher: Ingrid van Bergen hat nach ihrem dreistündigen Monolog am ersten Verhandlungstag nur noch geschwiegen. Den Blick auf einen Punkt an der Richterbank fixiert, saß sie da wie Ingrid van Bergens Wachsfigur im Kabinett der Madame Tussaud: nun kein Affektstau mehr, keine seelische Verwirrung. Kalt und anmaßend bezeichnete Anwalt Paetsch, Vertreter der Nebenklägerin Sabine Knaths, dieses Verhalten, wie dem auch sei: Die Ruhe nach dem Sturm kann die Ruhe vor dem Sturm nicht ersetzen.

Das weniger brillant vorgebrachte Plädoyer des Staatsanwalts dürfte daher eher den Kern der Sache getroffen haben. Thomma riß das Verfahren aus dem schwülen Milieu der Halbwelt wieder auf die Ebene zurück, auf die es eigentlich gehört. Fast vergessen war auf einmal die Schar der schönen Zeuginnen, das ganze Verwirrspiel der sich kreuzenden Beziehungen. Mit ruhiger, gelegentlich kaum noch zu verstehender Stimme wies Thomma darauf hin, daß die Unpünktlichkeit und Lügenhaftigkeit des Opfers wegen ihrer Alltäglichkeit für die Angeklagte eben keine schwere Kränkung gewesen sei.

Er stellte klar, daß hinter der Fassade der Ingrid van Bergen vieles faul sei. Er weckte das Gespür dafür, daß nicht jede Frau, die von ihrem Mann betrogen wird, einfach zur Pistole greifen kann. Er vermittelte den Sinn dafür, daß menschliche Beziehungen eben schwierig seien, deswegen aber nicht im Stil aufgeplusterter Dramatik gelöst werden dürften. Bei allem Verständnis für die Ausführungen der psychiatrischen Gutachter ließ er sich nicht dazu hinreißen, das Opfer als den wahren Schuldigen hinzustellen.

Der Prozeß gegen Ingrid van Bergen wird am verqueren Lebensstil einer gewissen Gesellschaftsschicht nichts ändern. Unter dem Motto „heute die Bergen, morgen eine andere" wird sich das Karussell weiterdrehen. Wer vom Klatsch und der Sensation lebt, läßt sich seine Geschäftsgrundlage nicht entziehen. Dennoch sollte man das Verfahren nicht mit ungeduldiger Handbewegung ins Reich des Exotischen wischen. In der „Welt" war zu lesen, der menschliche Stoff, aus dem dieses Verfahren gemacht sei, eigne sich nicht zum Moralisieren. Da aber Schuld und Unschuld, um die es letztlich bei einem Prozeß geht, immer auch etwas mit Moral zu tun haben, eignet sich das van-Bergen-Verfahren ganz vorzüglich zum Moralisieren. Und zwar auf jene simple Art, wie sie Volkesmund hervorbringt: Es ist nicht immer Gold, was glänzt.



Die Geiselmorde von Gladbeck

Ein „Star" schlägt Schaum

1989 / Ein Strafverteidiger darf fast alles. Anders als im Zivilprozeß besteht keine Pflicht zur prozessualen Wahrheit. Diese Regelung, die nur von den allgemeinen Gesetzen begrenzt wird, hat ihren guten Grund. Der Angeklagte soll die Gewißheit haben, bestmöglich vertreten zu werden. Im Dritten Reich hat man versucht, den Strafverteidiger in die nationalsozialistische Ideologie einzubinden - mit fatalen Folgen für die Angeklagten. Es war daher richtig, nach dem Krieg diese staatsorientierte „Rechtspflege" fallenzulassen.
Rolf Bossi aus München macht von diesem Recht, ja dieser Pflicht, stets ausgiebig Gebrauch. Auch bei der Verteidigung des Gladbecker Geiselgangsters Dieter Degowski greift er kräftig in die Tasten. Die Taktik ist klar: Nicht das Trio soll schuld am Tod von Silke Bischoffund Emanuele de Giorgi haben, sondern der nordrhein-westfälische Innenminister Schnoor. Nun kann man durchaus der Meinung sein, der SPD-Politiker habe schwere Fehler gemacht. 

Aber die Schau, die Bossi am ersten Verhandlungstag abzog, muß bei jedem seriösen Juristen Bauchgrimmen verursachen. Auch Klaus Kirchner, Verteidiger des Angeklagten Rösner, vergaloppierte sich. Zwar möchte er den Prozeß nicht „politisch färben", fordert aber im selben Atemzug: Schnoor soll zurücktreten.

Diese Schaumschlägerei ist zwar erlaubt, aber dient sie auch den Angeklagten? Wirkliche Staranwälte jedenfalls, die sich allerdings - anders als Bossi - nicht gern als solche titulieren lassen, haben solche Faxen nicht nötig. Elite ist lautlos. Und meist erfolgreicher. Die Bilanz Bossis ist ja keineswegs so glän zend, wie in der Öffentlichkeit angenommen wird. Es schleicht sich daher der Verdacht ein, der umtriebige Münchner benutze die großen Fälle mehr zum Nutzen seines eigenen Ruhmes
.
Zur Sache: Noch vor der Eröffnung des Prozesses wollte Bossi eine Erklärung loswerden. Wußte er nicht, daß dies die Strafprozeßordnung nicht zuläßt, was blamabel wäre, oder versprach er sich einen medienwirksamen Auftritt? Wie auch immer: Das Gericht reagierte zu Recht äußerst kühl - nicht gerade eine gute Voraussetzung für das Schicksal der Angeklagten. Wir wissen zwar, daß es eigentlich nicht zulässig ist, Absprachen zwischen Verteidigung und Gericht hinter den Kulissen zu treffen. Doch es ist weitverbreitete Praxis, nach dem Motto zu verfahren: Eine gute Verteidigung findet vor der Verhandlung statt - im Fachgespräch mit den Richtern. Die Angeklagten profitieren davon meist mehr als von spektakulären Auftritten ihrer Verteidiger während der Verhandlung.
Geradezu abenteuerlich ist die Behauptung Bossis, der Polizei und dem Innenminister sei der Geldsack der Bank wichtiger gewesen als das Leben der Geiseln. 

Ausgerechnet ein SPD-Minister ein dicker Freund des Kreditgewerbes? Die CDU in Nordrhein-Westfalen, die aus dem Prozeß ganz gern politisches Kapital schlagen möchte; sollte sich davor hüten, Bossi zu ihrem Mann zu machen. Denn dessen These, man hätte den Geiselgangstern freien Abzug gewähren sollen, läßt die strafrechtliche Verfolgungspflicht völlig außer acht. Paßt das zur CDU? Die Staatsanwaltschaft, besser beraten als Bossi, hat jedenfalls bisher keinen  einzigen Politiker, keinen einzigen hohen Ministerialbeamten als Zeugen geladen.

Juristisch dürftig ist zudem der Vorwurf des Verteidigers, Schnoor habe die Verfassung gebrochen - Artikel 2 des Grundgesetzes garantiere schließlich jedem Bürger das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Und weil der Minister beim Amtsantritt geschworen habe, die Verfassung zu wahren, habe er auch seinen Diensteid gebrochen. Hier wird mit einer Generalklausel hantiert, mit der in einem Strafprozeß kaum etwas auszurichten ist. Aber was tut's? Juristische Laien werden Bossis Populismus nicht bemerken.


Ein Strafverteidiger darf fast alles, um seinem Mandanten zu helfen. Er darf sich dabei auch blamieren. Macht Bossi so weiter, ist er auf dem besten Weg dazu.



Konsequenz der Justiz-Kanäle

Hinrichtung im Fernsehen

1991 / Früher haben die Menschen darauf geachtet, ihr privates und das öffentliche Leben zu trennen. In die Intimsphäre ließ man sich nicht blicken. Liebe, Krankheit und Tod spielten sich in einem Bereich ab, der vom Tabu umgeben war. Heute wird diese Lebenshaltung voreilig als prüde und verklemmt abgetan. Die moderne, die scheinbar liberalisierte Gesellschaft reißt dagegen alles ins grelle Licht. Sie hält sich noch viel darauf zugute. Vor laufender Kamera breiten Männer und Frauen ihr Sexleben aus; andere bekennen sich zu allen möglichen Variationen, erzählen von Abtreibungen oder reden - von Experten assistiert über ihre Seelenzustände. Sigmund Freud für den Hausgebrauch. Die Illustrierten, zunehmend aber auch das Fernsehen, ersaufen fast in dieser Bekennerwelle.

Nicht genug mit dem meist peinlich berührenden Blick in Wohn- und Schlafzimmer: Jetzt will sich eine amerikanische Fernsehanstalt auch noch das Recht erkämpfen, bei Hinrichtungen dabeisein zu dürfen. Mag sein, daß es ihr nicht um Sensationshascherei geht, sondern um die Frage: Ist die Todesstrafe die angemessene Bestrafung für Kapitalverbrechen? Mag sein, daß heute schon Zeitungsjournalisten die letzten Sekunden des Delinquenten beschreiben dürfen. Es ist auch richtig, daß früher Hinrichtungen öffentlich waren - zur Abschreckung, wie man damals glaubte. Aber erstens hat sich diese recht rüde Methode überlebt und zweitens bestand meist eine Verbindung zwischen dem Hingerichteten und den Zuschauern. So kannten die Marktfrauen von Paris ihre Gräfinnen, ihre Revolutionshelden, den König und die Königin.

Ganz anders und deswegen so abstoßend wäre die öffentliche Hinrichtung irgendeines Mörders in Amerika. Denn man kann sicher sein: die indiskreten Bilder dürfen auch wir bald zu sehen bekommen, aufgekauft von geschäftstüchtigen Managern. Als ob sich ein einigermaßen einfühlsamer Mensch nicht vorstellen könnte, wie schrecklich eine Hinrichtung ist. Muß man denn auf alles mit der Nase gestoßen werden?



Bezahlte Sensationsberichte - und die Grenzen des Geschmacks

Falsche Aufgeregtheit

1988 / Der Mörder als Millionär, der Kapitalverbrecher, der aus seiner Tat Kapital schlägt - das erregt immer wieder die Gemüter. Der nordrhein-westfälische Abgeordnete Hartmut Schauerte will j etzt Nägel mit Köpfen machen. Aufgeschreckt durch Berichte, nach denen ein mutmaßlicher Mörder mit Illustrierten Verhandlungen führe, um seine Story meistbietend zu verkaufen, fordert er ein gesetzliches Verbot solcher Geschäfte.

Der Mann meint es gut. Doch der publikumswirksame Vorstoß geht an der Sache vorbei. Nüchtern betrachtet ist es doch so: Die Lebensbeichten von Giftmischerinnen, Totschlägern und Sittlichkeitsverbrechern werden von Millionen verschlungen. Warum auch nicht? Es ist ein legitimes Interesse zu erfahren, warum und wie andere in den Abgrund schlittern. Nicht nur Zeitschriften leben davon, sondern seit eh und je die Literatur, die Malerei, der Film. Sensationsgier nennen das die angeblich Charakterfesten. Beim Zahnarzt, beim Friseur blättern sie dann doch in den Schauergeschichten herum - verstohlen, versteht sich.

Wie nun kommen die Boulevard-Blätter an die heiße Ware heran? Sie recherchieren und gelegentlich zahlen sie den Tätern, oft auch den Opfern. Und sie müssen viel zahlen, da Nachfrage und Konkurrenz groß sind. Das läuft nach den üblichen Gesetzmäßigkeiten ab. Was also soll die Aufregung? Mit strafrechtlichen Bestimmungen jedenfalls kommt man diesem Markt nicht bei. Wer zöge die Grenzen, wer will entscheiden, was hier vielleicht anstößig ist, was nicht?

Nein, Takt und guter Geschmack lassen sich nicht verordnen. Da hilft nur der Appell an die Beteiligten weiter: an die Medien, nicht jeder Sensation um jeden Preis nachzulaufen, und an die Konsumenten, nicht alles zu konsumieren. Auch für das, was man Anstand nennt, gibt es einen Markt.



Die Trauerfeier für Franz Josef Strauß in allen ihren Nuancen: Momentaufnahmen des Reporters

Am Siegestor der letzte Trommelwirbel

1988 / Franz Josef Strauß stand ein letztes Mal im Mittelpunkt. Die Republik nahm Abschied, Bayern und sein geliebtes München. Die Kir­che trug ihn mit großem Glanz zu Grabe. Die Glocken läuteten, das Volk stand dicht ge­drängt, viele weinten. Und dann, die Nacht war schon hereingebrochen, ein letzter Trommel­wirbel am Siegestor. Der Mensch Franz Josef Strauß verließ die Landeshauptstadt - wie ein König.

Große Trauerzüge haben in München Tradi­tion. Ihren „Kini“ Ludwig II., den sie verehrten und doch nie verstanden, verabschiedeten die Bayern 1886. Auch nach dem Tod von Kron­prinz Rupprecht im August 1955 standen Tau­sende in der Ludwig straße Spalier. Damals wie heute wurde der Tod wie eine Zäsur emp­funden; viele glaubten, eine Ära sei zu Ende gegangen.

Das sonst so quirlige München wirkte wie gelähmt. Das Herz der Weltstadt schlug lang­samer. Die Geschäfte waren wie leergefegt, in den Lokalen nur einige Tische besetzt. Man unterhielt sich leise, lugte immer mal wieder durch die Scheiben nach draußen.

Die Polizei hatte die Innenstadt abgeriegelt. Das „rote München“, das mit Strauß oft in herzlicher Fehde lag, gehörte an diesem 7. Oktober ganz dem Verstorbenen. Und den Trauergästen aus aller Welt: aus Afrika, Chi­na, Amerika, der Sowjetunion und den euro­päischen Staaten. Eine Versammlung, wie man sie auf deutschem Boden zum letzten Mal beim

Begräbnis von Konrad Adenauer gesehen hat- 1988 te, gab dem umstrittenen und gerade deswegen herausragenden Politiker die letzte Ehre. Wirkliche Freunde waren darunter, aber auch Män­ner, die an Strauß gelitten haben.

Doch in diesen Stunden schienen die Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte vergessen. Und das war vielleicht das Anrührendste an den Trauerfeierlichkeiten im Liebfrauendom und im Herkules-Saal: Die Fähigkeit der Politik, in

Ein kurzes Innehalten einem entscheidenden Augenblick einmal den Atem anzuhalten, Versöhnung zu demon­strieren.

Beim Requiem war das freundliche, wenn auch kurze Lächeln einer Frau wie ein Symbol für dieses Innehalten. Die schwarzafrikanischen Präsidenten Saibou und Eyadema waren vom Protokoll der Bayerischen Staatskanzlei im Stich gelassen worden. In gebückter Haltung suchten sie nach ihren Plätzen. Zweimal muß­ten sich die Unglücklichen am südafrikani­schen Präsidentenehepaar Willem Pieter Botha vorbeidrücken. Die Gäste aus Pretoria waren aus Sicherheitsgründen schon sehr zeitig in der Kirche erschienen, hatten unter dem rasenden Klicken der Fotoapparate Platz genommen, starr den Blick nach vorn gerichtet. Nun, als die beiden schwarzen Politiker so in Not gera­ten waren, hatte Frau Botha ein Einsehen, ein kleines Lächeln schlug eine kleine Brücke.

Punkt 13 Uhr - ein Augenblick fast unheim­1 icher Stille. Weihrauch durchzieht den Gottes­raum. Dann das kurze Anschlagen des Ster­beglöckchens. Einzug der Geistlichkeit: das Kreuz voran, gefolgt von Ministranten, den bayerischen Bischöfen, orthodoxer Geistlich­keit und Kardinälen, an ihrer Spitze der Erzbi­schof von München und Freising. Die Trauer­gemeinde erhebt sich von ihren Plätzen.

In der ersten Reihe die Tochter und die Söhne von Strauß, die 81jährige Schwester der vor vier Jahren tödlich verunglückten Ma­rianne Strauß. Monika Hohlmeier, die in Kürze ihr zweites Kind erwartet - nach Aus­kunft der Ärzte soll es ein Bub werden - ist schmal und blaß, Franz Georg und Max wirken erschöpft.

Auf der anderen Seite des Ganges die Reprä­sentanten des Staates. Bundespräsident Ri­chard von Weizsäcker mit seiner Frau, der Bundeskanzler mit Frau, der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Max Streibl. Und in den folgenden Bänken: Die Mächtigen und die längst Abgetretenen. Deutsche Nachkriegs­geschichte wie in einem Kaleidoskop. Da saß der alternde Georg Leber, wie Strauß einst Verteidigungsminister, da saß der ehemalige bayerische Justizminister Richard Jaeger, da saßen die früheren Bundespräsidenten Car­stens und Scheel, Exministerpräsidenten der Länder wie Hans Filbinger.

Auch der bayerische Adel war vertreten. Prinzessin Hella, die Prinzen Eugen und Franz, der Herzog und die Herzogin in Bayern. Sie, deren Familie bis 1918 das Land regierte, mußten mit den hinteren Rängen vorliebneh­men. Längst sind sie mit der Republik ver­söhnt. In Franz Josef Strauß, dem republika­nischen Monarchen auf Bayerns Thron, hatten sie einen guten Freund. Besonderes Interesse erregten Fürst und Fürstin von Thurn und Taxis. Auf ihrem Jagdgut im Regensburgischen war Strauß zusammengebrochen, in ihrer „Residenzstadt“ schließlich nach über 40stün­ digem Todeskampf gestorben.

Der Fürst, offenbar auch bei Trauerfeier­lichkeiten modischen Extravaganzen nicht ab­hold, trug ein recht gewagtes Einstecktuch. Fürstin Gloria dagegen erschien comme il faut - mit einem schwarzen Tuch über den blonden Haaren, ganz im Stil des spanischen Hof­zeremoniells.

In der 24. Reihe saß eine Frau, die Strauß in letzter Zeit eng verbunden war. Frau Piller, die ihm nach dem Tod von Marianne Strauß zur Seite stand und ihm jene Stütze war, die auch ein Mann wie Strauß brauchte. Nicht anwesend war der stellvertretende chinesische Ministerpräsident Yilin. Der Kommunist aus Pe­king erschien erst zum Staatsakt im Herkules­saal. Als einer der ersten war er im Apotheken­hof der Residenz vorgefahren. Offensichtlich etwas gelangweilt saß er mutterseelenallein in der zweiten Reihe, blätterte im Programm.

Draußen an der Feldherrnhalle standen die Menschen unterdessen Kopf an Kopf, um einen Blick auf die hohen Trauergäste zu er­haschen. Das Programm war zeitlich längst aus dem Ruder gelaufen. Kardinal Wetter hatte im Dom länger geredet, als von der Staatskanz­lei erwartet, und auch das Bayerische Staatsorchester unter Wolfgang Sawallisch war mit dem Mozart-Requiem nicht in dem vom Proto­koll vorgesehenen Tempo vorangekommen.

Nur langsam füllte sich daher der Herkules­saal. Man hatte Zeit zu kurzen, geflüsterten Gesprächen. Politiker neigten sich zu Bischö­fen. Kurienkardinal Mayer, der ehemalige Abt von Metten und heute einer der mäch­tigsten Männer im Vatikan, wurde von Wirt­schaftsminister Gerold Tandler nach kurzem Händedruck in einen Gedankenaustausch einbezogen.

Schließlich wieder jene Stille der Erwartung wie Stunden zuvor im Dom. Schritte glitten über das Parkett: Der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Familie Strauß. An der Stirnseite des Saales die Bayernfahne und die Deutschlandfahne. Auf der Bühne ein Foto von Strauß vor schwarzem Tuch. Reihe für Reihe versteinerte Gesichter, als die Ouvertüre zu Ludwig van Beethovens Trauerspiel „Coriolan“ erklingt. Der türkische Ministerpräsident Özal reckte sich hoch. Außenminister Genscher zeigte ein unendlich betrübtes Gesicht. Harte Gefechte hatte er mit dem CSU-Chef ausge­fochten. Was dachte wohl dieser Mann, der als Taktiker der deutschen Politik dem Verstor­benen in nichts nachsteht?

Schließlich die staatsmännischen Reden, die großen Würdigungen eines großen Politikers. Helmut Kohl, der Männerfreund, spendete das herausragendste Lob, das die Republik zu ver­geben hat: „Franz Josef Strauß hat sich um unser Vaterland verdient gemacht.“ Bayern­hymne, Deutschlandlied.

Und dann ein Ritual, das man eigentlich nur mit dem französischen Begriff des Pompes funares fassen kann. Militär, Abordnungen aller Stände, der Staat, repräsentiert in allen seinen Funktionen, der Sarg auf der Lafette, gezogen von sechs Rappen, der höchste Orden der Bundesrepublik auf schwarzem Samt­kissen, Kommandos hallen zwischen den Prachtbauten auf Münchens schönster Straße. Gewehre werden präsentiert.

Das Militär schafft dem Militär eine Gasse. Das Volk steht stumm. Nur gelegentlich das Schreien eines kleinen Kindes, Trauerflor weht vom Siegestor. Die Soldaten blicken starr. Die Hufe der Pferde klappern auf dem Pflaster. Strauß zieht durch jenen Triumphbogen, den Bayern einst seinen Soldaten des 70er Krieges errichtet hatte. Es erhebt sich nur einen Steinwurf von jener Stra­ße, wo der Sohn eines Metzgers vor 73 Jahren zur Welt kam. Anfang und Ende liegen nah beieinander, doch dazwischen war es ein wei­ter, ein oft steiniger Weg.



Bilanz des Kommentators: Strauß - die Höhen, die Tiefen, die Einordnung im künftigen Geschichtsbuch

Schon jetzt ein Mythos

1988 / Bayern trauert um seinen Landesvater, die gesamte Republik um einen Politiker, der seit 40 Jahren Freunde wie Gegner in Atem hielt. Schon zu Lebzeiten war er zum Mythos gewor­den. In seiner Person bündelte sich deutsche Nachkriegsgeschichte. Bis zuletzt beflügelte er wie kein anderer die Phantasie, gab immer wieder Anlaß zu der Frage: Wer ist dieser Mann, was will er? Noch lange wird man über manche seiner Aktionen rätseln, aber die große Bilanz dieses großen Lebens ist bereits ge­schrieben.

Sein Denken war geprägt von einer liberal- konservativen Grundhaltung, vom katholi­schen Elternhaus, geprägt von den Erfahrun­gen des Krieges und der Nachkriegszeit, aber verbunden mit einer intellektuellen Beweglich­keit, die das Bewahrende nicht zu einem Verkümmern und Begrenzen werden ließ. So war er der mutigste Kämpfer, als es darum ging, den Herrschaftsanspruch des klerikal gestimmten Konservatismus in Bayern zu brechen und die CSU zu einer pragmatischen Volkspartei zu formen, die erste mit einer modernen Organisation.

Auch sein oft plakativ vorgetragener Anti­kommunismus hat ihn nie daran gehindert, mit Kommunisten lebhaften, gelegentlich gar herz­lichen Umgang zu pflegen. Das hat manchen seiner Anhänger verwirrt, aber auch den poli­tischen Gegner, der plötzlich von liebgewordenen Klischees Abschied nehmen mußte. Man erinnere sich nur daran, wie Strauß zur großen Überraschung den Kredit für die DDR einfä­delte und nach seinem Gespräch mit Michail Gorbatschow Worte des Lobes und der Anerkennung für den neuen Mann im Kreml fand

Kurzum: ohne ihn hätte die Deutschland- und Ostpolitik der Regierung Kohl nicht solche Erfolge erzielt.

Mit den Sozialdemokraten ist Strauß immer wieder gnadenlos ins Gericht gegangen. Aber er hat nicht vergessen, daß die Bundesrepublik aus einer Art „großer Koalition“ von Union und SPD geboren worden ist, wie der Histori­ker Andreas Hillgruber analysierte. Ohne diese Koalition, so die Grundüberzeugung des CSU- Politikers, wäre das Grundgesetz, die Basis der Bundesrepublik, nie verabschiedet worden. Strauß hat ja in der Tat die SPD immer nur dann heftig angegriffen, wenn sie in Neutralis­mus abzudriften drohte, konnte aber - man denke an die Zusammenarbeit während der Großen Koalition - durchaus mit ihr auskom­men.

Das eben war das Geheimnis von Strauß: Nach außen, vor allem in den zahllosen Wahl­kämpfen, zeichnete er ein holzschnittartiges Bild der Innen- und Außenpolitik. In der prak­tischen Umsetzung seiner Visionen dagegen

Bedeutend handelte er bedenkend und analytisch. Radika­le Entscheidungen waren ihm sogar zuwider, etwa bei dem Gedankenspiel mit einer vierten Partei oder bei heiklen Personalfragen. Selbst was seine eigene Karriere anbetraf, war Strauß ein Zauderer. Geht er nach Bonn, geht er nicht? Diese Frage beschäftigte jahrelang die deut­sche Innenpolitik.

Ging es allerdings um sein Bayern, dann packte Strauß wie ein Löwe zu. Die Industria­lisierung des Freistaates wäre ohne seine Dy­namik so nicht zustande gekommen. Von al­lem, was gut und modern ist in Wirtschaft und Technik hat er möglichst viel hereingeholt.

Dabei scheute er auch das politische Wagnis nicht. Der Rhein-Main-Donau-Kanal und die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf haben ihm böse Feindschaften und Stim­menverluste eingetragen. Doch das Gesamter­gebnis ist hervorragend. Die Umwandlung des einst agrarisch geprägten Bayern in eine florie­rende Industrieregion ging unter seiner Füh­rung nicht nur schnell, sondern auch relativ schonend vor sich. Trotz der Umwälzungen bewahrte das Land seine Traditionen und seinen Charakter.

Freilich hat sich auch ein Strauß nicht alle Träume erfüllen können. Die Kanzlerschaft blieb ihm ebenso versagt wie das Außenmini­sterium. Diese Niederlagen haben ihn lange umgetrieben und er hat seinen Ärger darüber auch zum Nachteil seines politischen Lagers spüren lassen. Kohl und Genscher wurden von ihm, der sich für den Besseren hielt, oft unge­recht beurteilt.

Aber gerade sein politischer Eigensinn und seine hohe Selbsteinschätzung haben der politischen Landschaft Farbe gegeben. Von sei­nem Schlag gibt es keinen mehr. Seine Wort­gewalt, sein Witz, auch seine Derbheit, in erster Linie aber seine Kenntnis historischer Zusammenhänge und seine Detailversessenheit werden Bayern und der Bundesrepublik fehlen. 133 Bilanz des Kommentators: Strauß - die Höhen, die Tiefen, die Einordnung im künftigen Geschichtsbuch



100 Jahre Familienzwist: Wieder einmal ein festspielreifer Krach in Bayreuth (Fortsetzung folgt ...)

Die Wagners und ihre Bannflüche

1976 / Zerstrittene Familien gibt es viele. Aber keine hat den Deutschen seit nun 100 Jahren so viel Stoffgeliefert wie die Wagnersche in Bay­reuth. Mit ihren Erbstreitigkeiten, Eheschei­dungen und Seitensprüngen amüsiert sie die einen, wie sie die anderen schockiert. Neuester Skandal auf dem Grünen Hügel: Wagner-En­kel Wolfgang schied nach 33jähriger Ehe von Frau Ellen und ehelichte seine Sekretärin, das Fräulein Gudrun Mack. Der Wechsel von der Ehefrau zur Sekretärin ist an sich nichts unge­wöhnliches, und ehrenrührig ist er schon gar nicht. Warum also überhaupt darüber berich­ten?

Nun: Von Richard bis zu Wolfgang und Wieland verstanden es die „Götter von Bay­reuth“ nicht nur, die Werke des Großvaters von Liebe, Tod und Leidenschaft in Szene zu set­zen, sie setzten sich stets selbst ganz opernhaft in Szene. Nichts geht da sang- und klanglos über die Bühne. Fanfarenstöße leiten jeweils den Eklat ein, hehre Großmütter ergreifen Maßnahmen, werden von zornigen Enkeln ge­schnitten, Mütter schleudern Bannflüche, Vä­ter wenden sich von ihren Kindern ab, Töchter ziehen vor Gericht. Es wird gekämpft und gehakelt - bis aufs Messer.

Schon eine Cosima-Tochter aus erster Ehe mit dem Dirigenten Bülow riefnach dem Rich­ter - gegen die eigene Mutter. Ihr Begehr: So wie ihre beiden jüngeren Schwestern, als na­türliches Kind Wagners anerkannt zu werden, um somit am Erbe zu partizipieren. Cosima reagierte entsprechend. Die Tochter sah sich aus dem Familienkreis verstoßen.

Dabei ging die noble Mutter, selbst uneheli­ches Kind aus der Verbindung Liszts mit der Gräfin d’Agoult, elegant über die Tatsache hinweg, daß sie noch während ihrer Ehe mit Bülow dem Meister zwei Kinder zur Welt gebracht hatte. Ein Skandal, der das damalige München empörte und Ludwig II. tief verletz­te. Aber, so versuchte man sich im Hause Wagner zu entschuldigen, für Künstler gelten eben andere Gesetze. An diese Devise hielt man sich auch fürderhin. Winifred, eine 18jährige Engländerin, wurde flugs mit Wagner-Sohn Siegfried verheiratet, als es galt, dessen nie ganz geklärte amourösen Abenteuer zu vertu­schen.

Selbige Winifred, Festspielleiterin zur Hit­lerzeit, hatte dann wiederum ärgsten Ärger mit Tochter Fridelind. Die hatte nämlich sträflicherweise nichts übrig für den lieben Onkel Wolf, der schützend seine Diktator-Hand über das Wagner-Unternehmen legte. Mit ihrem im Ausland geschriebenen Buch „Nacht über Bay­reuth“ plauderte sie indiskret über das Verhält­nis ihrer Mutter zum ersten Wagnerverehrer des Reiches. Womit sie sich den Bannfluch „erster Ordnung“ einhandelte, nach dem Krieg in der Familienloge keinen Platz fand und was der Sanktionen mehr waren.

Aber der Sturz des Reiches brachte auch den Sturz seiner „Ersten Frau“. Winifred zog sich grollend zurück, Sohn Wieland zog eine Mauer zwischen den Häusern. Begründung: Um die Altnazi-Mischpoke, die sich bei seiner Mutter auf der Veranda tummelten, nicht sehen zu müssen. Und tappte bald darauf selbst ins Verderben, als er sich zur langbeinigen, rothaa­rigen Wagnersängerin Anja Silja nicht nur künstlerisch hingezogen fühlte.

Neu-Bayreuth hatte sein pausenfüllendes Thema. Ein Blick in die Familienloge genügte, um festzustellen, wer gerade im Stand der Gnade oder Ungnade lebte. Es wurde immer verwirrender. Die Scheidung einer Wagner-Urenkelin konnte nur noch am Rande festgehal­ten werden.

Und als Wolfgang nach dem Tod seines Bruders schließlich zum Alleinherrscher Bayreuths aufgestiegen war, mußte der Wie­land-Zweig zähneknirschend zum Rückzug bla­sen. Man retirierte nach Sylt und wartete auf bessere Zeiten. Die sind nun mit der Wolfgang-Eskapade gekommen. Winifred gewährte der verstoßenen Ehefrau Asyl, die sonst zerstritte­ne Urenkelschar vereint sich gegen den Boß. Schon witternd, daß sein Sturz vielleicht nur eine Frage der Zeit ist, und daß das große Rennen um die Nachfolge in der Festspiel­leitung beginnt.



Von einer Sängerin, die Politikerin wurde

Kunst nach Melina-Art

1982 / Melina Mercouri, „Sonntags nie“, ist eine showbewußte Dame. Auch als Kultusministe­rin Griechenlands versteht sie es glänzend, sich ins Rampenlicht zu setzen, allerdings nicht immer vorteilhaft. Ihre larmoyante Erklärung auf der Weltkulturkonferenz in Mexiko, die Erde wäre menschlicher und kultivierter, gäbe es mehr weibliche Kultusministerinnen ihres Schlages, mag noch als feministische Pflicht­übung bewertet werden. Töricht ist dagegen ihre wiederholte Forderung, die in der Welt verstreuten griechischen Kulturschätze sollten in ihr Ursprungsland zurückgebracht werden.

Die Mercouri-Aktion hat zwei Gründe. Sie verschafft der Regierung Papandreou bei der Bevölkerung den Nimbus patriotischen Einsatzes, und sie verschafft ihr Beifall bei den Ländern der Dritten Welt, die sich ebenfalls von den ehemaligen Kolonialmächten und dem dollarschweren Amerika ausgeplündert füh­len. Beides kann die nach nur neun Monaten bereits schwer angeschlagene Regierung gut gebrauchen.

Bei allem Verständnis für nationale Emp­findlichkeiten, ist nationalistisches Gehabe in Fragen der Kunst aber das letzte, was die politisch und wirtschaftlich auseinander- driftenden Länder Europas gebrauchen kön­nen. Sicher: Kunst ist meist auch politisch, doch nur im Sinn einer vom Künstler gedachten Aussage. Die guten unter ihnen sind Kosmopo­1 iten, denen es gleichgültig ist, wo ihre Werke zu betrachten sind. So dürften die im Zeus- Himmel versammelten Künstler des alten Hel­las ein homerisches Gelächter über ihre Kolle­gin Melina anstimmen.

Kunstwerke an ihren Ursprungsort zurück zubringen, ist ausnahmsweise dann berechtigt, wenn sie nur dort zu verstehen sind, oder wenn sie Teil eines Ganzen sind, das ohne diesen Teil nicht erschlossen werden kann. Das gilt nicht für die von Frau Mercouri geforderten Skulp­turen vom Parthenon oder die Venus von Milo, die nur von einem Museum ins andere wandern würden, ohne daß sich neue Aspekte in ihrer Beurteilung ergäben.

Zum Reiz eines Kunstwerkes gehört auch seine „Lebensgeschichte“, die gelegentlich auf­regender ist als es selbst. Kauf und Raub, Weiterverkauf und Tausch geben ihm eine historische Begleitung, die seine Bedeutung, die es vor der Endstation Museum gehabt hat, erst lebendig macht. Daß Dürers Apostel heute in München hängen, ist für Nürnberg zwar bedauerlich, aber für jeden Betrachter, der nicht nur die Bildoberfläche sieht, gleichzeitig ein Hinweis auf die Geschichte Bayerns und auf die stetige Entwicklung der Politik und Kulturpolitik zum Zentralismus hin. Diese „Lebensgeschichten“ der Kunstwerke durch nationale Verschiebungsaktionen korrigieren zu wollen, wäre ein stumpfer Akt von Bürokra­tismus, abgesehen davon, daß die Museumsdi­rektoren auf Jahrzehnte hinaus mit einpacken und auspacken beschäftigt wären.

Melina Mercouri wird keinen Erfolg haben (sie weiß es sicher selbst am besten), aber sie gibt jenen Auftrieb, die unter Kulturpolitik die Fortsetzung nationaler Politik mit anderen Mitteln verstehen. Das sind auch jene, die bereits die olympische Idee diskreditiert haben. Die Griechin Mercouri hätte aus dieser trauri­gen Erfahrung lernen können. Statt dessen führt sie ihr Land mit kleinkarierten nationalen Tönen in die Europäische Gemeinschaft ein.



Aus alt mach neu, aus echt mach Synthetik: Gedanken zur Zerstörung unserer Dörfer

Vermurkst in alle Ewigkeit?

1979 / Internationale Kongresse haben ihren eigenen Ritus. Man trifft sich an Orten, die auch den Ehefrauen (oder sonstigen Begleitperso­nen) der Teilnehmer etwas zu bieten haben. Man hält Reden, weil sie dazugehören, um­kränzt die Veranstaltung mit Kultur (meist ein Streichquartett zwischen Buchsbaum plaziert). Kurzum: Man stellt sich zur Schau, feiert sich selbst und ist froh, wieder einmal dem tägli­chen Einerlei entflohen zu sein. Kongreßler mit Erfahrung haben auch eine Art Berufskleidung entwickelt: Flanellanzug oder dezenter Nadel­streifen, gedeckte Krawatte, Brille mit intellek­tuellem Anstrich. Die Körperhaltung ist leger, ohne dabei die Wichtigkeit des Anlasses zu vergessen. Ausliegendes Informationsmaterial wird emsig zusammengerafft, in Akten köffer­chen gestopft oder weithin sichtbar unter den Arm geklemmt.

Das Treffen des „Europarat- Symposions historischer Städte“ in München und Landshut war ein klassischer Fall oben beschriebener internationaler Zusammenkünf­te. Im festlichen Rahmen des Cuvillis-Thea­ters rollte ein Programm ab, das bereits am zweiten Tag in seiner Attraktivität offenbar von den nahegelegenen Einkaufsstraßen über­troffen wurde. Man gab sich zwar allgemein besorgt über die Lage des Denkmalschutzes in Europa, konnte aber keine gemeinsame Spra­che finden. Die Probleme in den einzelnen Ländern erwiesen sich als zu unterschiedlich.

Beschränken wir uns daher darauf, einen Überblick über die Situation in der Bundesre­publik (vornehmlich Bayern) zu geben. Wäh­rend die vom Kahlschlag des Krieges und des darauffolgenden deutschen Wirtschaftsauf­schwungs bedrohten Altstädte in den letzten

Jahren von vergleichsweise großen Erfolgen berichten können - so etwa Bamberg, Regens­burg, Landshut und Nürnberg - sind die Verlu­ste an historischer Bausubstanz aufdem Lande nach wie vor erschreckend hoch. Michael Petzet, Generalkonservator des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege (sein Referat war ein Lichtblick im sonst eher trüben Einerlei), nannte alarmierende Zahlen: „In den Dörfern müssen wir bei historischen Wohn- und Wirtschaftsge­bäuden mit Verlusten von fünf bis acht Prozent im Jahr rechnen, was dazu geführt hat, daß schon jetzt, vor allem in einigen großstadt­nahen Landkreisen, alte Bauernhäuser fast ganz verschwunden sind, ja, daß in einer großen Region wie dem Regierungsbezirk Oberpfalz bereits abzusehen ist, daß für die letzten histo­rischen Bauernhäuser nur noch das Freilicht­museum als Zufluchtsstätte bleibt.“

Wie weit die freiwillige Zerstörung bereits fortgeschritten ist, zeigte die beim Symposion vom „Deutschen Nationalkomitee für Denk­malschutz“ vorgelegte Broschüre „Bauen und Bewahren auf dem Lande“. Was deren Autor Dieter Wieland da auf 78 Seiten zusammenge­tragen hat, erfüllt mit Schaudern. Man hat ihn ja schon selbst gesehen, diesen ländlichen Siedlungsbrei aus bundesdeutschen Einheits-Bungalows, aufgedonnert mit Plastik, Glas­bausteinen und Aluminium, diese „moderni­sierten“ Bauernhäuser mit ihren modischen Einscheiben-Kippfenstern, mit ihren Türen aus dem Katalog, mit ihren auf „Alt“ getrimmten Kitsch-Putzen. Das ungute Gefühl, daß hier Fürchterliches angerichtet wird, in der Wie­land-Dokumentation wird es zur deprimieren­den Gewißheit. Dem Wunsch der „Süddeut­schen Zeitung“, dieses Buch solle in Zukunft der Knigge aller Häuslebauer, all der heimi­schen Horrorbastler und aller geschmacks­verführten Katalogkunden sein, kann man sich nur anschließen. Denn Wieland klagt nicht nur an, er bietet auch Wege, wie es anders und besser gemacht werden kann. Vor allem stellt er vieles radikal i n Frage, woran wir lange wie selbstverständlich festgehalten haben.

Zum Beispiel: Sind die großscheibigen Fen­ster, die brutal in alte Häuser hineingestanzt werden, wirklich pflegeleichter? Frage an Frau Saubermann: „Vor drei Tagen erst haben Sie die Riesenscheiben geputzt, all Ihre Blumen­töpfe beiseite geräumt. Und dann wäre Ihnen das Ungetüm beim Kippen fast auf den Kopf gefallen. Jetzt ärgern Sie schon wieder der viele Staub und die Ränder der Tropfen. Das alles hätten Sie bei den alten Sprossenfenstern völlig übersehen. Da stört Schmutz lange nicht so, der verspielt sich. Das ist so wie mit Ihrem hochglanz-plastikbeschichteten Tisch. Sie se­hen jeden Makel. Sie wischen kürzer, aber öfter. Hochglanz will immer auf Hochglanz sein.“

Mancher Jungbauer, manche Jungbäuerin mag nun einwenden, wenigstens brächten die großen, ungegliederten Glasscheiben mehr Licht in die gute Stube. Aber wie ist das eigentlich mit dem Licht? Brauchen wir in erster Linie viel Licht oder brauchen wir nicht gutes Licht? Erschlägt viel Licht nicht oft den Raum, macht ihn klein und raubt ihm jede Geborgenheit, jeden Schatten, jede Tiefe? Die alten Fenster- sprossen markierten sehr genau die Grenze gegen die Außenwelt. Und waren ein schöner Rahmen dazu. Solche gegliederten Zimmer­wände werden heute aufgerissen, monströse Löcher völlig widersinnig hineingesägt. Das Drinnen wird draußen, das Draußen wird drin­nen. Die Autos fahren fast durchs Zimmer und ein trübsinniger Dauerregen verfolgt einen bis unters Dach. Und plötzlich spüren die Bewoh­ner, daß da etwas nicht mehr stimmt. Nun wird versucht, das ungemütliche Loch wieder zu stopfen, eine Barriere aufzubauen mit einer Batterie von Blumentöpfen. Die grelle Deut­lichkeit wird mit Wolkenstores verschleiert. Scheint die Sonne, rasseln die Kunststoffjalousien herunter.

Ähnl ich grausam wird mit den Türen verfah­ren. Alte reißt man gnadenlos heraus, neue werden ohne Zusammenhang mit dem Stil des Hauses hineingesetzt. Dabei hat man früher auf die Haustür den größten Wert gelegt, so­lange es wichtig war, dem Fremden und Nach­barn zu zeigen, daß sie willkommen sind. Moderne Haustüren dagegen sind anonym: Klingelknopf, Sprechanlage, Guckloch, schnarender Türöffner, quadratischer Stoßgriff, den man nicht fassen kann, sondern boxen muß. Türen, die viel aussagen über uns und unser Verhältnis zum Mitmenschen. Hausbau also nicht nur als ästhetisches, sondern auch als soziologisches Problem.

Türen und Fenster - zwei Beispiele aus dem Buch von Dieter Wieland. Schön und gut, werden die Betroffenen sagen. Aber müssen wir, nur weil wir in alten Häusern wohnen, auf die Errungenschaften der Technik und auf Komfort verzichten: Auf ein sauberes Bad, eine gut funktionierende Heizung, eine moder­ne Küche, auf Teppichböden? Sicher nicht. Denn mit ein wenig Phantasie und gutem Willen kann Neues geschaffen und Altes bewahrt werden.

Die Radikallösung muß nicht die beste sein. Vielleicht könnte man mit dem Heizraum in den alten Stall ausweichen. Oder mit dem Bad aufdie Tenne. Daß es da manche Möglich­keiten gibt, zeigen die von Städtern mit viel Liebe ausgebauten Bauernhöfe. Zuerst lachen die Bauern der Umgebung, wenn so ein „Ver­rückter“ eine alte Bruchbude kauft. Hinterher, wenn alles fertig ist, staunen sie. Und erinnern sich vielleicht, wie gemütlich es früher einmal auch bei ihnen war. Vor allem sollten sie sich einmal überlegen, ob der Städter nicht aus eigenen Fehlern gelernt hat, warum er aus der Unwirtlichkeit der Stadt flieht und ein dem Menschen angemessenes Wohnen und Leben auf dem Lande sucht.

Nun muß man gerechterweise auch einmal fragen, wie das alles kommen konnte. Wurde wirklich früher auf dem Lande anders gedacht oder war das, was wir heute als „Gestaltungs­wollen“ unserer Väter ansehen, eher das Er­gebnis von Notwendigkeiten und Zwängenund von natürlichen Gegebenheiten? Michael Petzet hat darauf hingewiesen, daß die beschränkten Bewirtschaftungsmöglichkeiten von einst, die beschränkten Handwerkstechniken, Baumate­rialien und Transportmöglichkeiten ihren we­sentlichen Teil dazu beitrugen, daß eine Grund­ordnung entstand, die verbindlich für alle war und die noch heute den Reiz historischer An­siedlungen bestimmt.

Die überlieferten Haus­typen, aus denen sich zum Beispiel in Bayern verschiedene „Hauslandschaften“ zusammen­setzten, stellten ein in sich geschlossenes, emp­findliches Ordnungsgefüge dar, in dem ur­sprünglich eines vom anderen abhängig war: Die Bewirtschaftungsform von der Topogra­phie, dem Boden und dem Klima, die Bau­formen von den Bewirtschaftungsformen und den verfügbaren Materialien, die Vegetation von der Bodenbewirtschaftung. Haus­landschaften und Kulturlandschaften wurden also nicht bewußt gestaltet, sondern entstanden aus verschiedenartigsten Zwängen heraus.

Diese Zwänge sind heute weitgehend wegge­fallen. Neue sind an ihre Stelle getreten: Ab­wanderung aus strukturschwachen Gebie­ten, wachsende Industrialisierung auf dem Lande, oder die gefährdende Nähe zu expan­dierenden Ballungsräumen. Da geht es aber auch um die Umwandlung agrarischer Mischbetriebe landschaftstypischer Bauart in mono­funktionale agrarische Gewerbebetriebe (Hüh­nerfarmen, Bullenmast, Kälberzucht), die an möglichst rationellen und hochtechnisierten Bewirtschaftungsgrundsätzen orientiert sind und genormte Bauweisen nahelegen. Diese Entwicklung gefährdet die in Jahrhunderten gewachsenen Hauslandschaften, während an­dererseits die völlige Ignoranz gegenüber den neuen Rationalisierungszwängen die Dörfer auf Dauer nur dem Verfall preisgeben würde.

Wie ist hier ein Ausweg zu finden? Zuerst einmal sollte versucht werden, soviel als mög­lich vom alten Bestand zu erhalten. Denn vieles läßt sich wiederverwenden, auch Kleinigkeiten, geschnitzte Türfüllungen, Griffe, Tür- und Fensterbeschläge. All das sind Kostbarkeiten wie die alte Wäschetruhe, die Ofenbank oder die bemalte Anrichte.

Gefordert sind aber auch die Architekten (nicht der das Baugeschehen auf dem Lande beherrschende Planfertiger, der immer wieder den gleichen Einheitsplan aus der Schublade zieht).

Der Architekt müßte begreifen, daß die Auseinandersetzung mit den Bindungen einer historischen Umgebung durchaus nicht einen­gend sein muß, sondern im Gegenteil außeror­dentlich anregend sein kann. Nicht das veräußerlichte Kopieren historischer Bauformen, das diese entwertet und auf Äußerlichkeiten redu­ziert, sondern deren bewußte Weiterentwick­lung wäre wohl die einzige Möglichkeit, um auf Dauer gesehen nicht nur einzelne Baudenk­mäler, sondern wenigstens eine Erinnerung an den Reichtum kultureller Überlieferungen in die Zukunft zu retten.

Die zuständigen Behörden müßten schließ­lich durch ständige Aufklärungsarbeit dazu beitragen, daß ein anderes Bewußtsein ent­steht. Dazu braucht es nicht nur Gesetze, mit denen die Menschen zu einem bestimmten Ver­halten gezwungen werden, sondern in erster Linie beratende Hilfestellung. Gutes Beispiel dafür: das Beratungsblatt „Das Dorf“, heraus­gegeben vorn Bayerischen Landwirtschaftsmi­nisterium.

Alle zusammen müssen dazu beitragen, daß wir wieder lernen, Ansprüche zu stellen. Im Gespräch mit Handwerkern, Bauunternehmern, Architekten, Straßenbauern, Gärtnern. Mit dem Bürger. Denn nur da, wo Qualität gefordert wird, hat die Bewahrung des Alten eine Chan­ce.



Kunst als Wanderzirkus - eine trügerische Hausse

Festivals der Bilder

1986 / Schon bei Botero in München gewesen, bei Picasso in Düsseldorf, bei Eva in Hamburg? Da muß man hin. Botero ist köstlich, Picasso immer noch Spitze, Eva pikant. Die Liste der Kunstausstellungen in der Bundesrepublik liest sich so exquisit wie die Empfehlungen des Herrn Siebeck. Hier der Wettstreit um kulina­rische Sternchen, dort ums Renommee. Unsere Nachbarn ziehen mit. Monet in Basel, Ko­koschka in London, die Futuristen in Venedig. Alles, versteht sich, immer nur vom Besten. Das bedeutet freilich, daß permanent geliehen und ausgeliehen werden muß. Für die Restau­ratoren ist die Dauerrotation der Museums­bestände ein Greuel. Nicht zu Unrecht fürchten sie um die Haltbarkeit ihrer Schätze. Doch was wiegen solche Bedenken gegen den Ehrgeiz der Museumsdirektoren und reisenden Aus­stellungsmacher, was vor allem gegen die ständig steigende Vorliebe des Publikums an Festivals der Bilder, Plastiken und Objekte?

Dennoch bleibt ein Unbehagen - allerdings anderer Art. Zwar ist es schön, daß die einst verstaubten Musentempel zu quirligen Begeg­nungsstätten geworden sind; daß die Schran­ken vor dem scheinbar Schönen, Wahren und Guten eingerissen sind; daß Kunst zum Massen­vergnügen wird. Aber da sind auch Schatten­seiten: Kunst als x-beliebige Konsumware, als Zeitvertreib, ohne die Bereitschaft und Mög­lichkeit, sich ihren Inhalten zu stellen. Heute Beuys im Münchner Lenbachhaus, morgen Gotik und Renaissance in Nürnberg.

Sicher: Die Museen bemühen sich, den Zu­gang zu erleichtern. Dickleibige Kataloge mit mehr oder weniger klugen Aufsätzen werden dem Besucher in die Hand gegeben. Auf Hochglanz darf er nach Hause tragen, was in der Ausstellung optisch auf ihn eingestürmt ist. Doch meist zieren die Doppelpfünder nur das Bücherregal, denn schon lockt ein neuer Hit: Wie wär’s mit Dresdner Barock in der Villa Hügel?

Kunst will herausfordern, will neue Seh­weisen erschließen, will zum Nachdenken und Innehalten bewegen. Sind diese Intentionen nur noch in der Superschau zu erfüllen? Wäre Bescheidenheit nicht mehr? Beispiele dafür gibt es. 90.000 Besucher sahen in der Hambur­ger Kunsthalle eine Lautrec-Ausstellung, die sich mit den eigenen Beständen begnügte. Die Alte Pinakothek war ähnlich erfolgreich mit dem Holländer Brouwer, obwohl sie mit nur zehn Leihgaben auskam. Da wurde der Blick nicht verstellt durch Menge, sondern konzen­triert auf Wesentliches.

Was soll es denn auch, wenn - so bei einer Jawlensky-Ausstellung in München - Porträts des Künstlers wie Brief­marken aneinandergereiht werden, oder das umstrittene „Zeige Deine Wunde“ von Beuys neben anderen Objekten zum Rumpelkammer- Requisit verkommt? Und ist es kunsthistorisch durchdacht, sakrale Gegenstände nach Nip­pes-Art aufzustellen, anstatt wenige Stücke in einen Rahmen zu stellen, der dem ursprüngli­chen nahekommt? In Köln ist man letztes Jahr einen neuen Weg gegangen. Die romanischen Kirchen der Stadt wurden mit ihrer Architektur und ihren schmückenden Gegenständen in toto zum Ausstellungsgegenstand erhoben. Zusam­menhänge blieben erhalten. Der Besucher konn­te die Bedeutung eines Tabernakels, einer Monstranz, einer Heiligenfigur im Gesamtkonzept erkennen oder zumindest erspüren.



Der Abtreibungsprozeß von Memmingen

Kein Ruhmesblatt

Im Memminger Prozeß wurde die Chance vertan, sich einem der heikelsten Probleme des Strafrechts mit der gebotenen Sorgfalt und Behutsamkeit zu nähern. Hier, wo es um Moral und Recht, Gewissen, Gesetz und staatliche Schutzfunktion ging, blieb jene fundierte Zwi­schenbilanz aus, die man sich 13 Jahre nach der Änderung des Paragraphen 218 gewünscht hätte. Es ist daher auf eine Revision zu hoffen. Dieses Verfahren kann nicht Richtschnur für die Zukunft sein.

Der Angeklagte spielt dabei nur eine Neben­rolle. Er ist zu Recht angeklagt und jetzt verurteilt worden. Dr. Horst Theissen hat hundert­fach abgetrieben, ohne den gesetzlich vorge­schriebenen Weg von getrennter Beratung und Indikationsfeststellung eingehalten zu haben. Und er hat - was in Bayern und Baden-Würt­temberg verboten ist - die Eingriffe ambulant vorgenommen. Daß er dafür im Schnitt 500 Mark berechnet hat, ohne sie zu versteuern, mag man als Argument gegen die von ihm so peinlich-pathetisch vorgetragene Selbstlosig­keit werten, mit dem Kern der Sache hat dies nichts zu tun.

Warum also das Unbehagen? Memmingen hat schlaglichtartig gezeigt, daß der Paragraph 218 dem wirklichen Leben nur schwer gerecht wird. Ein Schwangerschaftsabbruch, so das Gesetz, bleibt dann straffrei, wenn sich die Schwangere in einer Notlage befindet, „die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht ver­langt werden kann, und die nicht auf andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann“. Das klingt gut und war sicher seinerzeit auch gut gemeint. Doch wer soll festlegen, was von einer Frau in einer für 1989 sie einzigartigen subjektiv empfundenen Situation verlangt werden kann, wer will beurteilen, was für sie zumutbar ist?

Sicher, subjektive Tatbestandsmerkmale sind dem deutschen Strafrecht nicht fremd. Einzigartig ist es aber, den psychischen Zustand eines Angeklagten gesetzlich fassen zu wollen. Daher war es gedankliche Schlamperei der Staatsanwalt­schaft, die Rekonstruktion einer solchen Not­lage im Gerichtssaal gleichzusetzen mit der Aufklärung der Tatumstände bei Mord und Totschlag.

Es war leider nicht die einzige Fehlleistung. Die Ankläger brachten es in einem Plädoyer sogar fertig, eine soziale Notlage, die der gesetzlichen Vorschrift Genüge tun würde, schlechterdings auszuschließen: Nur zwei Beispiele aus dem Katalog der kühnen Inter­pretationen: Eine junge, ledige Schwangere hat einen festen Arbeitsplatz, den sie nicht verlieren will - kein Problem, da kann sie ja eine Pflegestelle für das Kind finanzieren. Eine andere ist arbeitslos - auch gut, dann hat sie Zeit, sich um das Kind zu kümmern. Das ist - bei allem Verständnis für eine enge Auslegung der Notlagenindikation - kleinkarierte Kasui­stik. Hier wird ein Gesetz ausgehöhlt, anstatt ihm allgemein verbindliche Korsettstangen ein­zuziehen.

Auch die Urteilsbegründung stellt nicht in allen Teilen zufrieden. Warum fühlte sich der Vorsitzende Richter dazu aufgerufen, auch noch ins Politische abzugleiten? War es nicht schon bedrückend genug, daß Politiker aller Couleur mit unangebrachten Kommentaren den Prozeß begleiteten? Aber nein, Richter Albert Barner verbreitete sich über die Unentschie­denheit der Politiker und über den bedrücken­den Verlust des allgemeinen Wert- und Rechts­bewußtseins. Dabei wäre es ein Segen gewe­sen, hätte sich wenigstens er auf die rechtlichen Aspekte des Falles konzentriert. Barner gilt als konservativer Richter. Aber er hat offenbar jene Ende der sechziger Jahre aufgekommene Lehre verinnerlicht, nach der Gerichte volks­pädagogisch und politisch wirken sollen.

Am wenigsten mit Ruhm bekleckert hat sich allerdings die Verteidigung. Es gehört schon viel frecher Mut dazu, Theissens Verstöße lediglich als Formfehler abzutun. Das offenbart, wie selbst Juristen die Rechtsordnung einschätzen, wenn sie sich nicht für die eigenen Bedürfnisse hinbiegen läßt.

Eines hat zumindest der Memminger Prozeß gezeigt: In dieser Gesellschaft, in der so viele Menschen keinen anderen Ausweg als Abtrei­bung sehen, scheint Tötung menschlichen Lebens dennoch nicht gesellschaftsfähig zu sein. Warum hätten sonst die angeklagten Frau­en so unter der Verlesung ihrer Namen vor Gericht gelitten? Dieser Widerspruch mußte die große Aufregung um Memmingen gerade­zu zwangsläufig auslösen. Jetzt aber heißt es, jenseits leichtfertiger Worte und billiger Slo­gans, eine Übereinkunft zu erzielen.



Minister Leber in Rosenthals Porzellanladen

Philip der Gute und der gute Schorsch

1980 / Die Zigarre im Mund, lauschte der Genosse dem Genossen. Was üblicherweise als Unhöf­lichkeit gilt, im Hause Rosenthal gehört es offenbar zum Stil. Zwischen Barock und Mo­derne gibt man sich im Schloß Erkersreuth betont weltoffen. Deutsche Gastlichkeit einmal anders: Keine Verengung auf Nadelstreifen und Flanell, keine zur Schau getragene Schlam­pigkeit zwischen Lederjacke und Rollkragen­pullover. Dort mischt sich alles was Rang und keinen Namen hat. Die Frau „Philips des Guten von Selb“ gibt der Atmosphäre jene betonte Aufgeklärtheit gräflicher Salons des ausgehen­den 18. Jahrhunderts. Schmucklos, das „Klei­ne Schwarze“ wie eine zweite Haut tragend, bewegt sie sich zwischen Vorstandsmitglie­dern des Konkurrenzunternehmens Hutschen­reuter und hauseigenen Porzellanmalern.

Georg Leber, nach unrühmlichem Ende als Verteidigungsminister zum Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags gekürt, war Star- Gast der 14. Politparty des Porzellan-Imperi­ums. Rosenthal hatte den guten Schorsch gebe­ten, zum Thema „Wohin Entspannung?“ zu sprechen. Fast schweißtriefend entledigte sich der Arbeitersohn und Gewerkschaftler zwi­schen Gold-Rocaillen und avantgardistischer Plastik seiner Aufgabe. Das groteske Deutsch („Wohin Entspannung?“) aufnehmend, schwa­dronierte er atemlos daher. Kostprobe: „Es wäre falsch, mit Moskau nicht mehr zu reden, weil die Afghanistan gemacht haben.“ Noch verquerer die Aussage: „In der Politik darf man nicht den Grundsatz alles oder nichts vertreten. Das kann man nicht mal bei der eigenen Frau.“

Leber, seit eh und je mit dem gesproche­nen Wort im gespannten Verhältnis, geriet auch inhaltlich zusehends in die Sackgasse. Da predigte er einerseits, die Verbindungen mit Moskau nicht abreißen zu lassen, andererseits prangerte er die Unternehmer an, die mit der Zigarre im Mund auch jetzt noch Geschäfte mit den Sowjets machen wollen. Gastgeber Rosenthal drückte flugs die seinige im Aschen­becher aus.

Immer tiefer geriet Leber ins Dickicht der Entspannungspolitik. Afghanistan dürfe nicht hingenommen und verziehen werden meinte er, den Hosenbund männlich nach oben zie­hend, um im gleichen Atemzug leuchtenden Auges von der Notwendigkeit des Dialogs zwi­schen Ost und West zu sprechen. Der aus der Zuhörerrunde gestellten Frage nach dem Olym­pia-Boykott wich er roten Kopfes aus. Georg Leber, man merkte es peinlich, schien nach Afghanistan mit der Entspannung seine Mühe zu haben. Lag es etwa daran, daß er zu Beginn seines auf 20 Minuten terminierten Vortrags behauptet hatte, erst auf der Fahrt von Kulm­bach nach Erkersreuth erfahren zu haben, worüber zu referieren sei?

Der Unmut über das Hin und Her der Leber- Äußerungen wurde denn auch unüberhörbar. Böses Lachen stieg auf. Die Fragen an den Referenten entbehrten nicht der Schärfe. Als Gastgeber Rosenthal der unguten Situation ein Ende bereiten wollte, kam es zum Protest. Ein Journalist meinte, er sei schließlich 150 Kilo­meter gefahren, um sich ein Bild von Georg Leber zu machen. Aber Rosenthal beharrte auf seiner Party-Hausregel (20 Minnten für das Referat des Gastes, 40 Minuten Diskussion) und bat zur Atzung in den Keller seiner Behausung.

Von fränkischen Spezialitäten angezogen, Grillduft in der Nase, verstummte denn auch die Diskussion über Kommunismus und Kapitalismus. In den düsteren Gewölben re­duzierten sich die Gespräche weitgehend auf das Wetter, auf den Nudelsalat und das im tiefen Blau schimmernde Schwimmbad, an dessen Rändern man sich mit Brezel und Schweinesteak auf dem Teller entlangdrückte.

14. Polit-Party bei Rosenthal: Das war der etwas verkrampfte Versuch des Genossen Un­ternehmers, den Genossen Leber einer bunt gemischten Gästeschar zu präsentieren. Bei aller Bandbreite der SPD konnte die Kluft zwischen dem Porzellan-Herrn und dem Arbeitersohn nicht überbrückt werden. Das redliche Bemühen, klassenlose Gastlichkeit zu zelebrieren, schlug um in bemühte Kumpanei. Aber schon wird zur nächsten Polit-Party ge­beten. Referent des Abends: Lebers Präsi­diumskollege Richard Stücklen (CSU).



Der Anfang vom Ende der Ära Streibl: Berg heil!

Der stramme Max

1991 / Endlich hat es geklappt. Nach Umbuchungen, bei denen auch die Ermordung des Münch­ner Journalisten Egon Scotland eine Rolle ge­spielt hat, ist unser Landesvater wieder im Tal. Jetzt hat er den Kofel, Oberammergaus Haus­berg, bezwungen. Zu seinem Troß gehörten etwa 50 Landtagsjournalisten, die die Ehre hatten, mit ihrem Landesherrn zu schwitzen. Ein herrliches Bild, wie sich die stattliche Gruppe den 1.350 Meter hohen Berg erst rauf, dann wieder runter bemühte!

Das Vergnügen spielte nur am Rande eine Rolle. Denn ein hoher Politiker denkt sich immer etwas. So war auch die sommerliche Wanderung nicht irgendeine Wanderung.

In den letzten Monaten machten immer wie­der Gerüchte die Runde, der Münchner Regie­rungschef sei gesundheitlich angeschlagen, seine Kräfte reichten für das Amt nicht aus. Die Urheber solcher Parolen sind nur schwer auszumachen. Also verkündete der Angeschos­sene, er werde es jedem zeigen.

Man hat Verständnis dafür, daß dem Max Streibl die Unterstellungen, dieses Munkeln aus dem Dunkeln, auf die Nerven gegangen ist. Aber ist die Aktion deshalb überzeugend? Müssen jetzt auch Politiker, oft Herren im fortgeschrittenen Alter, den strammen Max spielen?

Die Unsitte kommt aus Amerika. Jimmy Carter joggte so intensiv, bis er eines Tages zusammenklappte und wie seine eigene Groß­mutter aussah. George Bush übernahm sich erst vor kurzem bei der angeblich publikums­wirksamen Rennerei. Jetzt, bei der Anmeldung für eine zweite Amtsperiode, mußte er aus­drücklich auf seinem guten Gesundheitszustand herumreiten. Auch Ronald Reagan spiel­te ständig den Mann in Saft und Kraft. Das hat ihn sicher ganz schön angestrengt.

Früher wäre keiner auf solche Mätzchen gekommen. Zu Recht. Denn auch kränkelnde oder zeitweilig angeschlagene Politiker können Großes leisten. Max Streibl hätte daher souveräner auf das Geschwätz reagieren sollen. Oder machen wir es den Germanen nach? Bei Thing-Veranstal­tungen mußten die Häuptlinge über Streitwa­gen springen, um ihre Kräfte zu messen und um ihre Stärke zu zeigen. Ein damals vernünftiger Brauch. Aber heute?



Zwei CSU-Dissidenten gründen eine Protestpartei - die „Republikaner“ Wie lange wird es sie geben?

Bös auf den alten Spezi

1983 / Wenn der Franz mit dem Franz dem Franz eins aufs Hirn hauen will, gibt’s bestimmt eine Gaudi. Der Handlos Franz und der Schön­huber Franz sind bös auf ihren alten Spezi, den Strauße Franz. Der eine weigert sich stur, die Einfädelungen und Kapriolen des einstigen Meisters zu kapieren, der andere möchte halt immer mitreden und dabeisein.

Jetzt haben sich die beiden irgendwo getrof­fen, die Schwollköpfe zusammengesteckt und „tragfähige politische Gemeinsamkeiten“ ent­deckt. Sogar an einer eigenen Partei werkeln sie hinterfotzig, die Sauwütigen.

Doch mit Wut im Bauch allein ist selbst in Bayern auf Dauer nichts auszurichten. Hand­los, Schönhuber und der bisher geheimgehalte­ne Kreis ihrer Kumpane, werden daher über biersaure Gasthausstuben nicht hinauskom­men. Zu dürftig ist ihr Programm, zu bunt­scheckig die Schar der Strauß-Geschädigten. Zudem: Wer Franz Josef Strauß und die CSU rechts überholen möchte, muß, um durchzukommen, den Bauch auf lebensgefährliche Weise einziehen. Wer’s nicht glaubt, kann einen Küchenhocker nicht von einem Kirch­turm unterscheiden.

Schönhuber schrieb in seinem SS-Buch über seinen Abschuß beim Bayerischen Rundfunk: „Da zielen viele und einer schießt.“ Im Land des Jennerwein ist das alter Brauch. Aller­dings: Treffen können muß man auch. Wollen mögen ist lächerlich.

Anm. d. Red.: Wenige Jahre nach dem Er­scheinen dieser bayerischen Glosse in der „Nürnberger Zeitung“ hätte man denken

mögen: Da hat sich der Autor damals aber geirrt! Inzwischen aber wissen wir: Er hat recht behalten, die „Republikaner“ sind in der Auflösung begriffen. Denn: „Mit Wut im Bauch allein ...“                                                



Der Bücherumsatz steigt, doch die Leser werden weniger: nur ein scheinbarer Widerspruch? 

Das Lesen erproben

1984 / Feiertage, freie Tage: Tage der Entspannung, des Konsums, des seit langem fälligen Verwandtenbesuchs. Mancher wird sich vielleicht auch vorgenommen haben, endlich wieder ein Buch zu lesen - ein „gutes“ Buch, wie es so schön heißt. Doch die Wirklichkeit ist meist stärker als der Vorsatz. Lesen will nämlich gelernt sein und muß ein Leben lang trainiert werden. Und so kommt es, wie es kommen muß: Das Buch bleibt ungelesen, die Lektüre wird von Ostern auf Weihnachten verschoben.

Man hat Grund, darüber besorgt zu sein, daß die Zahl jener immer kleiner wird, die sich noch der Herausforderung der Bücherwelt stellen. Besonders bei jungen Menschen greift die Lesefaulheit um sich. Mehr und mehr Schüler und Lehrlinge schwören dem Buch ab, neuerdings - so eine Untersuchung - sogar Studenten, denen man bisher nachsagte, sie verschanzten sich hinter Bücherbergen.

Dabei ist der Anteil der Bücherkäufer an der Bevölkerung in den letzten fünfzehn Jahren von rund 47 Prozent auf 63 Prozent gestiegen. Doch die Zahlen täuschen - mehr Käufer be

deuten nicht mehr Leser im traditionellen Sinn. Absatzsteigernd sind nämlich nur jene Titel, die mit der gängigen Vorstellung vom Buch wenig zu tun haben: Es sind dies leicht konsumierbare Spruchsammlungen und vermischte Lebensregeln im Reader’ s-Digest-Stil, hübsche Bildbändchen, die man auch gern verschenkt - zum Beispiel an Feiertagen.

Bücher dagegen, wie Thomas Manns „Zauberberg“ oder Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ werden zeitraffend am Fernsehschirm oder im Kino abgesessen. Inneres Durchhaltevermögen ist da nicht gefragt, auch nicht „Persönlichkeitsstärke“, die die Allensbach-Chefin Elisabeth Noelle-Neumann vor kurzem in einer Dokumentation zu definieren versuchte. Gekennzeichnet seien von solchen Eigenschaften Menschen mit starker Ausstrahlungskraft, zum Experiment bereit, sicher im Urteil, ausdauernd im Handeln. Sie hätten Freude an der Arbeit und langweilten sich, im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen, nie. In ihrer Freizeit seien sie fleißige Bücherleser, denn sie besäßen die Fähigkeiten, die ein guter Leser braucht: Neugierde, Zielbewußtsein, Phanta¬sie und Ausdauer. Oder anders herum: Wer im Leben schnell aufgibt, ist meistens auch im Lesen kein Meister.

Lesen ist so gesehen mehr als bloße Freizeit¬beschäftigung. Frau Noelle-Neumanns amerikanischer Kollege George Gallup hat schon in den sechziger Jahren darauf hingewiesen, daß die Entwicklung intellektueller und kreativer Fähigkeiten einer Gesellschaft eng von deren Lesegewohnheiten abhänge Der Forscher hatte dabei die bedenkliche Situation in seinem Land vor Augen, wo Lesekurse für Studienanfänger eingerichtet werden mußten, weil die jungen Leute es nicht mehr mit einem richtigen Buch aufnehmen können. Aufgewachsen als Dauerfernseher, verkraften sie nur noch Sprechblasen und Häppchenliteratur.

Auch hierzulande hat das Fernsehen fatale Auswirkungen auf das Lesen. Es lebt vom ständigen Szenenwechsel und von der Fülle ständig wechselnder Themen. Alles wird schnell und kurzweilig abgehandelt. Gedanken reißen ab, bevor sie zu Ende gedacht werden können.

Günter Christiansen, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hat daher zu Recht auf die Gefahren hingewiesen, die durch die Vernachlässigung des Bücherlesens nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die Erfindungsfreudigkeit und Selbstgestaltungskraft der Gemeinschaft entstünden.

In der Tat: Lesen ist kein altmodischer, bürgerlicher Zeitvertreib - es ist, wie Gallup es sagt, „der beste Maßstab für das kulturelle Niveau eines Volkes“. Die Feiertage und die Ferien sind eine Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen, das Abenteuer zu wagen und die Lust des Lesens zu erproben.



Anmerkungen zur schönen, neuen Fernsehwelt

Fade Unterhaltung

1991 / Nichts scheint in diesem Land wohlfeiler zu sein als Medienkritik. Der Vorwurf der Manipulation, der Verfälschung von Wirklichkeit und der Tendenz zur angeblichen Verblödung der Zuschauer ist so alt wie das Fernsehen. Kommunikationswissenschaftler, Mei¬nungsforscher und andere schlaue Leute haben damit schon ganze Bibliotheken vollgeschrieben. Das Ergebnis ist nicht gerade erhellend. Auch das Gejammere, seit der Einführung der Privaten sei alles noch schlimmer geworden, ist müßig. Die Dinge haben längst ihren Lauf genommen. Lassen wir also die tiefschürfende Analyse, beschränken wir uns auf Beobachtungen, die man aus der Tiefe des TV-Sessels machen kann.

Zum Beispiel Unterhaltung, Abteilung Sex und Erotik. Mit ihrer Schniedelwutz-Aktion gab RTL-Nudel Hella von Sinnen vor, Neuland zu betreten. Doch nichts knisterte, nur miefig war’s und bezeichnend für die allgemeine Unfähigkeit, mit leichter Hand kleine Feuerwerke zu zünden. Statt dessen - von Erika Berger bis „Tutti frutti“ entweder plumpe Verbalerotik oder schlüpfrige Gaudi. Mit immer peinlicheren Einfällen wird das Publikum geködert. So verspricht Thomas Gottschalk der lieben Hella, demnächst fast hüllenlos in ihrer Sendung aufzutreten. Ein zweifelhaftes Vergnügen auf dem Niveau von Pennäler-Späßen.

Die Liste der Geschmacklosigkeiten läßt sich verlängern: Kinder als Imitatoren ihrer Schlagerlieblinge. Die Show, in die ehrgeizige Eltern ihre Gören treiben, ist derart halbseiden, daß sich bereits Pädagogen warnend einschalten. Zu Recht, denn die kleinen Lolitas und die gestylten Bübchen schaffen eine klebrige Atmosphäre, in der sich nur verklemmte Gemüter wohl fühlen dürften.

Anderes Beispiel: die Talk-Show. Die Seuche grassierte schon vor dem Golfkrieg, doch das Geschäft blüht noch immer. Wichtigtuerische Experten, Prominente, die nur Eigenreklame machen, quasseln in sämtlichen Kanälen. Die von keinerlei Zuständigkeits- und Qualifikationszweifeln geplagten Akteure sind unfähig, sich von der Last der Selbstüberschätzung zu befreien. Auf das wohltuende Eingeständnis, eine Frage auch mal offenlassen zu müssen, wartet der von soviel Klugheit eingeschüchterte Zuschauer vergebens. Und melden sich Fachleute, wie der Ordinarius für Islamistik an der Universität Tübingen, der wenig von den Konzelmanns und Scholl-Latours hält, setzen sich die Betroffenen erst recht an einen Tisch. Gastgeber Dagobert Lind- lau moderierte bekannt selbstgefällig die Kollegen-Runde. „Es gibt nur ganz wenige Talk- Shows, wo es sich lohnt, reinzuschauen, die ewigen Seierköpfe, der 35. Psychologe und immer dieselben Gesichter, dem gebe ich keine Zukunft“, meint dann unser „Tommy“ in einem Anfall von Klarsichtigkeit.

In der Tat: Die berufsmäßigen Moralisten, Psycho- und sonstigen Therapeuten sind allmählich eine Plage. Jetzt droht sogar eine Sex-Talk-Show der Erika Berger, da angeblich Menschen nichts so interessiere wie Menschen im Gespräch; das sei das Leben. Aber ist es kultiviertes Gespräch, was meist geboten wird? Wohl kaum, denn alle quatschen durcheinander, der Lärmpegel steigt, am Schluß weiß niemand genau, wer was gesagt hat. Im Gedächtnis bleiben nur Fetzen.

Es ist sicher problematisch, den Fernsehzuschauern vorzuschreiben, was sie zu amüsieren hat. Manches Gerede über das „Anspruchsvolle“ geht an der Tatsache vorbei, daß die

Muß Flachheit sein? meisten entspannen, sich zerstreuen wollen. Der Mensch pickt also heraus, was ihm gefäl¬lig ist, was ihn bestätigt. Deshalb bringt das Fernsehen vorwiegend Unterhaltung und scheinbar unterhaltende Information nach dem simplen Motto des ZDF-Intendanten Dieter Stolte, Unterhaltung sei eben, was unterhalte. So einfach ist das. Aber muß Unterhaltung derart flach sein? Sind nur noch die niedrigen Instinkte Richtschnur für die Programme? Game-Shows, Serien, Talk-Shows und Sexmagazine - es flimmert aufallen Kanälen. Zum Steinerweichen.



Ein Leitartikel von hoher Haltbarkeitsdauer - zu einer unendlichen Geschichte

Der Ladenschluß

1987 / Margaret Thatcher fackelt bekanntlich nicht lange. Auch vor geheiligten Traditionen schreckt sie nicht zurück. So diktierte sie in die Thronrede der Queen, daß künftig die Pubs im Lande durchgehend von 11 Uhr vormittags bis 11 Uhr abends geöffnet sein dürfen. Hinter der Entscheidung steckt mehr als der Abschied von einer Marotte. Die Premierministerin denkt eben marktgerecht, und das heißt für sie auch immer: sie denkt verbraucherfreundlich. Zudem erhofft sie sich von der Maßnahme 40.000 Arbeitsplätze im Gaststättengewerbe und alles in allem einen psychologischen Schub für ihren Kurs, die Wirtschaft zu liberalisieren, wozu auch der Abbau staatlicher Reglementierungen gehört.

In der Bundesrepublik kommt man auf diesem Gebiet nur zäh voran. Zwar wird seit Jahren über ein neues Ladenschlußgesetz palavert, aber in der Praxis tut sich nur wenig. Außer den Kann-Vorschriften für Flughäfen, Bahnhöfe und Fährhäfen sowie einem Versuchsmodell in Stuttgart bleibt nach wie vor alles beim alten, obwohl die Koalition vereinbart hat, das starre Ladenschlußgesetz von 1956 zu revidieren.

Über das Für und Wider ließe sich weitere Jahre trefflich streiten. Zum Beispiel darüber, ob eine Aufhebung oder Auflockerung des Gesetzes die Konzentration im Einzelhandel fördert oder nicht, ob die großen Geschäfte profitieren oder die kleinen, die Märkte auf der grünen Wiese oder der Fachhandel in der Stadt, ob sich die geeigneten Arbeitskräfte finden lassen oder nicht, ob neue Arbeitsplätze entstehen oder das Gegenteil der Fall ist.

Darüber hinausgehende Überlegungen werden dabei kaum angestellt. Ist es etwa vertretbar, daß der Staat dem Bürger vorschreibt, in welchem Zeitraum er einkaufen und verkaufen darf? Es geht ja nicht darum, die Arbeitszeit des einzelnen Angestellten zu verlängern; die ist ohnehin nicht im Ladenschlußgesetz geregelt. Es geht vielmehr darum, ein Stück mehr Flexibilität und Wahlfreiheit herbeizuführen. Früher war der Kunde König. Heute steht er nach 18.30 Uhr vor verschlossener Ladentür.

Zudem: Der Ladenschluß betrifft ja nicht allein das Freizeitbedürfnis von Verkäufern und die Interessen der Verbraucher, sondern auch die Funktionsfähigkeit der Städte. Um es etwas hochgestochen auszudrücken: Er betrifft einen zentralen Aspekt städtischer Kultur. Denn entscheidend für die Frage, ob eine Stadt mehr ist als ein Austauschsystem für Waren und Dienstleistungen, ist die Art, wie die Menschen dieses Austauschsystem interpretieren: bezogen auf sich selbst und die Lust am Geschäft oder bezogen auf bloße Effizienz.

Heute, die Sprache ist verräterisch, „erledigt“ man Geschäfte. Vergessen scheint, daß städtische Kultur aus der Markt-Wirtschaft im ursprünglichen Sinn des Wortes entstanden ist. Statt lebendige Geschäftigkeit auchnach 18.30 Uhr zu fördern, verliert man sich in oft alberner Stadtkosmetik und in der Ansiedlung „belebender“ Kulturzentren an oft falschen Orten.

Auf die in den 60er Jahren konstatierte Unwirtlichkeit der Städte - mit steigendem Wohlstand kam der Luxus, sich in den Städten nicht mehr wohl zu fühlen - reagierten Planer und Architekten mit einer arg hilflosen Reparatur: Hier eine Fußgängerzone mit Blumenkübeln und nostalgischem Schnickschnack, dort eine putzige Ladenpassage. Das ist hübsch gedacht und manchmal auch hübsch gemacht. Und doch legt sich abends wie Mehltau auf die Stadtzentren, der Stadtorganismus verfällt in eine Art Starrkrampf. Nach Stunden des Hastens und Eilens herrscht schlagartig gespenstische Ruhe.

Wie anders die Lebendigkeit vieler ausländischer Städte, wo bis spät in den Abend die Menschen flanieren, weil Handwerker noch werkeln, weil der Kramladen noch seine Waren anbietet, weil man in Boutiquen noch Kleid und Hose anprobieren darf. Dort Eiihren nicht etwa losgelassene Exoten vor, was Urbanität bedeutet, sondern dort stimmt ganz einfach das gelassene Zusammenspiel von Produzenten, Händlern, Käufern und Müßiggängern. Städtische Atmosphäre wird gelebt und muß nicht mühsam inszeniert werden.





Immer neue Rekorde der Urlaubs-Industrie

Zu fremden Ufern: Alles belegt

1979 / „Die Deutschen werden reisen wie noch nie“, prophezeite - gegen den Trend - schon 1949 Deutschlands Touristik-Pionier Carl Degener. Der Mann sollte recht behalten. Nachdem die Menschen wieder ein Dach über dem Kopf hatten, das Schnitzel auf dem Tisch, den Pelzmantel im Schrank, machten sie sich daran, die Welt zu erobern. Diesmal freundlich. Im VW- Käfer gings erst einmal Richtung Österreich und Italien. Die Adria wurde zum Teutonen-Grill. Jedes Jahr kamen neue Länder hinzu, Unsummen wurden über die Grenzen getragen - allein in den letzten neun Monaten des vergangenen Jahres 22,7 Milliarden.
Auch das Wintergeschäft florierte wie selten. Trotz Schneemangels an Weihnachten meldeten die Wintersportorte: Belegt. Kein Zimmer frei. Und kaum sind die Sommerkataloge auf dem Markt, hat die neue Buchungswelle eingesetzt. Gibt es keine unvorhergesehenen Ereignisse, könnte 1979 wieder ein Reise-Rekordjahr werden.
Unter dem Motto „Geld hamma und Zeit hamma“ streben die Bundesdeutschen zu immer neuen Ufern. Wer vor 20 Jahren mit Mallorca bescheiden anfing, tummelt sich heute schon längst in Ceylon oder geht auf Safari nach Kenia. Denn mehr und mehr begreift die große Mehrheit der Reisenden den jährlichen Urlaubstrip als sozusagen unpfändbaren Teil des Lebensstandards, als gleichwertiges Grundbedürfnis neben Essen, Wohnung, Kleidung und sozialer Versicherung. Und darum reisen

wir wie kein anderes Volk auf der Welt rund um dieselbe - Konjunktur hin oder her. Anm. d. Red.: ... und so ist es seither geblieben. Ein neuer Rekord jagte den nächsten in der Ferienbranche - meist unabhängig von der jeweiligen Wirtschaftslage.





Wenn die Erholung zum Streß wird: Über das Vergnügen und seine Anstrengungen

Schwierige Freizeit

1985 / Wir leben in einer Freizeitgesellschaft. Nach der berühmten Formel Hannah Arendts geht uns die Arbeit aus. Der Arbeitszeitforscher Pierre Adret prophezeit gar, daß wir in abseh¬barer Zeit nur noch zwei Stunden pro Tag arbeiten werden.
Diese Einschätzungen sind übel hieben, doch es ist unverkennbar, daß wir in der Tat Schwierigkeiten mit der Freizeit haben. Das hat jetzt erneut eine Untersuchung ergeben. Danach wird im kommenden Jahrtausend die Freizeit mehr Probleme als Freude bringen. Die befragten Bundesbürger sehen eher die Nachteile, etwa Umweltbelastungen, Konsumzwang oder Verschuldung, als die Möglichkeiten einer grö¬ßeren Entfaltung der Persönlichkeit. Freizeit¬forscher Horst Opaschowski faßt zusammen: „Mehr Freizeit ist nicht länger automatisch mit mehr Lebensqualität gleichzusetzen.“

Nun ist es eine Eigenschaft der Deutschen, selbst die angenehmen Dinge des Lebens zum Problem zu stilisieren. Es darfja nicht sein, daß wir unbeschwert genießen.

Trotz aller Übertreibung ist etwas Wahres an der These von den Schwierigkeiten mit der Freizeit. Nehmen wir nur die Weihnachtszeit und den Jahreswechsel. Als der letzte Feiertag am 6. Januar vorüber war, zeigten sich viele erleichtert. Endlich kam wieder Zug in den Alltag: aufstehen, arbeiten, fernsehen. Da weiß man, was man hat.

Freizeit ist also kein ungetrübtes Vergnügen. Erklärungen dafür gibt es viele. Liegt es vor allem daran, daß das Freizeitverhalten der Arbeitswelt entnommen scheint? So wird das Wochenende rechtzeitig verplant: am Samstag wird von dann bis dann Sport getrieben, am 1985 Abend trifft man sich zum Fondue mit Freunden. In diesem Stil geht es am Sonntag weiter. Besonders Menschen, deren Alltag eher fade abläuft, kaprizieren sich zum Wochenende hin auf die Erfahrung „gesteigerten Lebens“. Möglichst viel Aktion ist angesagt: Veranstaltungen, Einladungen, Feten und Attraktionen ohne Pause. Man ist ständig unterwegs, es herrscht Aufbruchstimmung, total anders muß alles sein. Kurzum: außerordentlich.

Dieses Verhalten ist auch im Urlaub zu beobachten. Die weitverbreitete Parole heißt: möglichst weit, möglichst exotisch, möglichst abenteuerlich. Und anstrengend darf die große Sause schon sein. So hektisch und anstrengend wie es bei vielen Menschen im Berufsleben zugeht, so hektisch gestalten sie ihre Freizeit - abschalten verboten.

Es ist also irrig zu glauben, die Leute wüßten mit ihrer Freizeit nichts anzufangen. Eher ist das Gegenteil richtig. Sie tun zuviel. Die we¬nigsten haben den Mut zu jenen scheinbaren Untugenden, die das Leben erst richtig schön machen - zum Faulenzen und Trödeln. Die wenigsten haben den Nerv, bummelnd der bil¬ligsten aller Vergnügungen nachzugehen, nämlich einfach andere Menschen anzuschaueh, ein bißchen die Ohren zu spitzen, aber letztlich ein paar Stunden allein zu bleiben. Die wenigsten wagen es, Zeit zu verplempern, weil ihnen ständig eingetrichtert wird, wie kostbar sie sei. So wird Freizeit zum Streß. Kein Wunder. Denn wer heute nicht bis zur Erschöpfung sportelt, gilt als Schlaffi. Wer sich nicht auf Partys tummelt, gilt als Außenseiter. Und er ist es auch schnell. Also heißt es mitmachen, mitmischen, dabeisein. Freizeitgestaltung als Leistung.

Kluge Verweigerung gelingt nur wenigen. Aber erst die Lücke im Programm macht Freizeit zur Erholung und damit zum Außerordentlichen. Zudem ist es eine Täuschung, anzunehmen, am Wochenende oder im Urlaub werde alles anders. Auch unter der Woche gibt es Möglichkeiten, ein bißchen von dem zu machen, was man unter Leben versteht.

Die Aussichten auf Besserung sind schlecht. Wir werden uns wohl weiter mit dem Paradoxon herumschlagen, daß die Menschen mehr Freizeit haben als ihre Vorfahren, aber dennoch ständig über Zeitnot klagen.





Erinnerungen an eine Zeit, als es noch keine meteorologischen Schlagzeilen gab

Dauerthema Wetter

1990 / Wenn sich Kröten waschen, wenn Salamander ihre Schlupfwinkel verlassen, wenn der Laubfrosch in die Höhe geht, dann ahnen Eingeweihte wie das Wetter wird. Angeblich. Zur Zeit sind solche Mätzchen überflüssig. Ganz Deutschland weiß es und spürt es. Sommer ist’s und Sommer soll es bleiben. Na und, möchte man meinen. Weit gefehlt. Heute ist es nicht einfach warm oder kalt, heute ist das Wetter ein Problem. Jammern und Stöhnen über fünf Zentimeter Schnee, Krisenstimmung bei Temperaturen über 25 Grad.

Woran liegt es? Wissen wir mehr über die Auswirkungen des Wetters, die Gefahren von Smog und Ozon oder ist es nur schick, sich Sorgen zu machen? Wie simpel war es doch früher: Kinder schmissen die Schuhe in die Ecke, packten die Badehose ein, kauften sich für 20 Pfennig eine Brause ä la Oskar Matzerath. Die Erwachsenen setzten sich in den Schatten, die Füße in der Zinkwanne.

Das ist nur noch Erinnerung. Längst ist das Wetter ein fast wissenschaftliches Thema. Meteorologen versuchen zu sagen, wie es weitergeht; Ärzte raten, man solle körperliche Aktivitäten einschränken und luftige Kleidung anziehen; die Rübenbauern klagen,  die Winzer freuen sich. Die Stadt Freiburg macht sich ganz tiefschürfende Gedanken: Die Trinkwasserversorgung sei noch weitgehend gesichert, Panik breche erst bei andauernder Trockenperiode in zwei Wochen aus. Wenn schon jetzt nicht, dann vielleicht und hoffentlich in zwei Wochen. Die Deutsche Presse Agentur schließlich gibt sich fast religiös: Erlösung, heißt es in ihrer gestrigen Wettermeldung, sei erst zum Wochenanfang zu erhoffen.

Man kommt ins Schwitzen, nicht wegen der Hitze, sondern wegen des geballten Unsinns.

Aber was soll es? Einer Bevölkerung, die derart lustvoll das Wetter abhandelt, kann es nur gut gehen. Das tröstet über manches hinweg. Zum Beispiel über den Anblick der bunten Halbnackten, die trotz oft fragwürdigen Leibes die Städte bevölkern. Aber irgendwann hat auch dies ein Ende. Dann wird zur Abwechslung auf Regen und Kälte geschimpft.




Aggressionen unter Autofahrern: auch die hier glossierte Verordnung konnte daran bis heute nichts ändern

Glück an der Parklücke

„Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?“ Auf diese Frage antworten die meisten mit großen, oft geschraubten Worten. Zumindest jene Prominente, die in der „Frankfurter Allgemeinen“ den von Marcel Proust entworfenen Fragebogen ausfüllen. Verleger Ernst Reinhard Piper zog sich elegant aus der Affäre. Philosophisch fragte er zurück: Gibt es das?

Skepsis ist angebracht. Aber wie ist es mit dem kleinen, alltäglichen Glück, dem Glück in der Ehe, dem Glück mit den Kindern, dem Glück am Arbeitsplatz? Oder ganz bescheiden: Wie ist es mit dem Glück, einen Parkplatz zu finden? Leider findet man es selten. Und wenn man es findet, sucht es oft auch ein anderer. Wer kennt nicht die unwürdigen Szenen, die hochroten Köpfe, die geballten Fäuste?

Das Bundesverkehrsministerium sorgt jetzt endlich für Ordnung. Nicht die Fixesten haben demnach Anrecht auf das große Glück, sondern jene, die die Parklücke „zuerst unmittelbar, also nicht auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, erreichen“. Weiter heißt es im schönsten Amtsdeutsch: „Da in der Regel rückwärts einzuparken ist, muß der betroffene Autofahrer (Berechtigte) in diesen Fällen zunächst an der Parklücke vorbeifahren.“ Wir sind betroffen - im wahrsten Sinn des Wortes.

Doch die Regelung ist vernünftiger, als sie klingt. Im Recht-schon dies ein kleines Glück - sind künftig Autofahrer, die sich besonnen an eine Parklücke heranpirschen und sich brav einfädeln. Das Nachsehen haben die Ellbogentypen, die schon in der Parklücke drin sind, bevor man ... Hast du den gesehen?

Die neue Verordnung widerspricht zwar der Übung, wonach dem Schnellsten der Lorbeer gebührt, aber was soll es? Bei immer weniger Parkplätzen kann auch ein noch so gutes Gesetz nicht helfen.                    



Das britische Königshaus: seit dieser Glosse sind noch ein paar Probleme hinzugekommen

Windsors und Browns

Auftritt Windsor. Die Royals waren wieder perfekt - vom Blumenmädchen bis zur boageschmückten Großmutter. Die erprobte Mischung aus monarchischer Distanz und huldvoller Volksnähe wirkte auch gestern wie Balsam gegen die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten des Landes. Pferdegetrappel und Posaunen, glitzernde Uniformen und ein elfenbeinfarbener Mädchentraum aus Satin ließen die Wirklichkeit vergessen. Tu felix Britannia nube
Unergründliche Faszination von Symbolen und Traditionen? Ja, das sicher auch. Entschiedener aber als die stets gleichbleibenden äußeren Zeichen trägt ein grundlegender Wandel zur Popularität des Königshauses bei. Die Family ist eben mitnichten perfekt. Da tummeln sich Geschiedene und Bürgerliche, da gibt es Romanzen und mehr. Was einst undenkbar gewesen wäre - Prinzessin Margaret weiß ein Lied davon zu singen - wird heute gnädig durchgelassen. Kurzum: Man ist menschlich mit Stil. Wie muffig geht es dagegen in manchen Demokratien zu, wo die Repräsentanten in ihrer gekünstelten Würde wie Holzpuppen wirken.

Nichts davon bei den Herrschaften aus dem Buckingham. Queen Mum - es ist bekannt - trinkt gern ein Gläschen, Anne redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, Margaret hat ihre Amouren, Andy war randy, Sarah im reinen Sinne des Wortes keine Miss. Das Volk weiß es und amüsiert sich königlich. Zwischen Windsors und der ganz gewöhnlichen Familie Brown gibt es zwar Schranken, aber keine Mauern. Freundliches Winken auf beiden Seiten.

1986 So wird auch die Queen unbeschadet aus den angeblichen Querelen mit ihrer Premierministerin herauskommen. Der Sturm im Wasserglas wird sich legen, denn die Royals sind ebenso glänzende Veranstalter von Festen wie diskrete Krisenmanager.





Über einen Mann mit einer Traumkarriere, der trotz seines Reichtums nicht glücklich wurde

Onassis: Traurige letzte Jahre

1975 / Erste Trauersträuße und Beileidstelegramme trafen ein. Journalisten aus aller Welt umlagerten geplant eine Villa im Athener Prominentenviertel Glyphada. Anrufer erkundigten sich nach dem Termin der Beerdigung. Über die Fernschreiber der Agenturen tickerte die Nachricht: Aristoteles Onassis liegt im Sterben. Aber der Grieche zeigte sich zäh. Noch war es nicht soweit. Ein Sprecher seines Hauses ließ verlauten: Der Patient macht stetig Fortschritte und wird vielleicht in wenigen Tagen das Haus verlassen können. Doch es kam anders.

Schwer gezeichnet von einer geheimnisvollen Muskelkrankheit (Myastenia gravis), ließ sich der Großreeder in ein Hospital nach Paris fliegen. Tochter Christina und Ehefrau Jacqueline wachten abwechselnd an seinem Bett. Die wenigen Fotos, die noch von ihm an die Außenwelt drangen, sprachen eine eindeutige Sprache: Onassis kämpft mit dem Tod. Gebückt, auf 45 Kilogramm abgemagert, sah man ihn noch einige Male am Fenster seines Krankenzimmers. Ärztliche Bulletins informierten diskret über den Stand seiner Krankheit: Operation der Gallenblase, Herzanomalie, Lungenentzündung.

Die Boulevardpresse lief unterdessen auf Hochtouren. Wer wird sein Riesenvermögen erben? Jacqueline bekommt nichts. Jacqueline bekommt die Hälfte. Jacqueline kümmert sich nicht um ihren todkranken Mann. Tochter Christina wacht Tag und Nacht an seinem Bett.

Am Samstag um 13 Uhr war es dann soweit: Onassis starb an einer Bronchial- und Lungenentzündung, gegen die nach einer Verlautbarung der Klinikleitung auch der Einsatz von Antibiotika nichts mehr half. Der Onassis-Clan eilte an sein Totenbett: Schwestern und Nichten kamen aus Griechenland, Jacqueline Onassis aus New York angeflogen. Nur Tochter Christina war während seiner letzten Stunden in seiner Nähe.

Mit Aristoteles Onassis hat sich ein Mythos wiederholt: Der Mythos des Menschen, der mit nichts in den Händen in die Welt zieht, um ein Vermögen zu machen. Ein umgebauter Frachter mit Luxussuite bescherte dem Reeder die erste Million.

Ausgestattet mit maßgeschneiderten Hemden und Anzügen, setzt er schließlich zum großen Sprung in die internationale Finanzwelt an. Die Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre kommt ihm dabei zu Hilfe. Er kauft notleidenden Reedern ihre Schiffe für ein Spottgeld ab, bringt die alten Kähne auf Hochglanz und installierte sich so zäh und verbissen im Lauf weniger Jahre im Tankergeschäft. Im Zweiten Weltkrieg macht er dann mit den Alliierten das große Geschäft. Nach dem Krieg kommt zum Geld noch mehr Geld: Onassis steigt ins Ölgeschäft ein, baut später eine griechische Fluggesellschaft auf, engagiert sich im Fürstentum Monaco und heiratet 1946 die 17jährige Tochter des Großreeders Livanos.

In der Öffentlichkeit werden die geschäftlichen Transaktionen des geschäftstüchtigen Griechen nur noch am Rande notiert. Das Imperium wird zusehends unübersichtlicher und verschachtelter. Was interessiert, ist der Onassis im Maxim’ s, auf seiner Luxusjacht „Christina“, wo sich die Churchills, die Garbo, die Windsors und all jene tummeln, die sich im Glanz märchenhaften Reichtums sonnen wollen

Eines Tages sieht man dann Operndiva Maria Callas im Deckstuhl. Die 14jährige Ehe mit Tina (zwei Kinder: Alexander und Christina) zerbricht. Der kleine Grieche, der es zu Reichtum gebracht hat, und die füllige Sängerin schließen Freundschaft (nach Aussage von Freunden soll es nie die große Liebe gewesen sein). Sie schließen eine Freundschaft, in der auch die Fetzen fliegen. Zwei südländische Temperamente, die sich in nichts nachgeben.

Und dann kommt der wohl größte Coup im Leben des Aristoteles Onassis. Maria Callas wird in die Verbannung geschickt, die Hochzeit mit Jacqueline Kennedy, der Witwe des ermordeten amerikanischen Präsidenten, angezeigt.

Was Mrs. Kennedy dazu bewog, den alternden Griechen zu heiraten, steht in den Sternen. Und Onassis selbst? Ist es Mitleid mit einer Frau, die unter dramatischen Umständen ihren Mann verlor? Oder ist es der Ehrgeiz des Emporkömmlings, die wohl berühmteste Frau des Jet-Sets an den Traualtar zu führen? Mit der Ehe jedenfalls verbindet sich Onassis mit einer der ersten Familien Amerikas. Er kann stolz sein.

Was dann nach der Heirat im Oktober 1968 kommt, ist eher traurig. Die neue Frau Onassis kümmert sich nur wenig um ihren Mann. Sie zieht es vor, hektisch von Boutique zu Boutique zu eilen, wo sie mit dem Geld nur so um sich wirft. Die Zeiten des verliebten Händchenhaltens sind schnell vorüber. Immer häufiger werden die beiden, mürrisch nebeneinander- sitzend, in feinen Restaurants von Paris und New York gesehen. Die Trennungen werden immer länger. Die Ehe ist nicht glücklich.

Dann kommt der schwerste Schlag im Leben von Onassis: Sein einziger Sohn Alexander stirbt bei einem Flugzeugunglück. Sein Lebenswerk scheint sinnlos geworden. Anderthalb Jahre später nimmt sich seine erste Frau Tina das Leben. Onassis ist ein gebrochener Mann. Sein Körper verfällt mehr und mehr. Die Krankheiten häufen sich. Der Tod kommt an einem Samstag um 13 Uhr.





Zu Besuch in Deutschland

Bürgerkönig Juan Carlos

1986 / Die Spanier haben mit den Bourbonen wenig Glück gehabt. Francisco Goya hielt die Unarten des französischen Herrscherimports auf dem Gemälde „Karl VI. und seine Familie“ fest. Es ist dies fast eine Karikatur auf den Dünkel, die Dümmlichkeiten und Prunksucht einer Sippe, die seit 1701 die Geschicke des Landes bestimmte - selten zu seinem Wohl.
Der Bourbone Juan Carlos, seit zehn Jahren auf dem Thron, ist aus anderem Holz geschnitzt. Er besitzt natürliche Würde, einen wachen Geist und versteht es, die Traditionen Spaniens wieder mit europäischem Gedankengut zu verbinden. Mehr noch: Ohne ihn wäre Spanien heute keine Demokratie mehr. Er allein hat den Putschversuch am 23. Februar 1981 vereitelt. Spätestens seit diesem historischen Tag ist Juan Carlos nicht nur König von Spanien, sondern der König der Spanier. Selbst eingefleischte Republikaner und die Kommunisten akzeptieren ihn. Nicht zuletzt auch deswegen, weil er mit wohlüberlegten Gesten und Worten dazu beigetragen hat, die Kluft zwischen den am Bürgerkrieg beteiligten Lagern zu verringern.

Sein Besuch in der Bundesrepublik setzt ein weiteres Zeichen. Er soll Anerkennung sein für die Hilfe Bonns bei der Demokratisierung Spaniens nach dem Tod Francos, die mit dem Beitritt zur EG gekrönt worden ist. Der Dank gilt vornehmlich CDU und SPD, die über ihre Parteistiftungen und durch direkte Beratung den Übergang Spaniens zu neuen Strukturen unterstützend begleiteten.

Dieses harmonische Bild ist vor kurzem leider von Franz Josef Strauß getrübt worden, der auf dem Parteitag der rechtskonservativen „Alianza Popular“ unter dem einstigen Franco-Minister Fraga Iribarne gegen Spaniens regierende Sozialisten losgezogen ist. Natürlich sind die Genossen jenseits der Pyrenäen nicht unfehlbar; Kritik ist also erlaubt. Aber wer die Verletzlichkeit des spanischen Selbstbewußtseins nur ein bißchen kennt, sollte als

Gast den Hammer wegstecken. Wer wiederum Strauß kennt, darf jetzt schon annehmen, daß er bei der Visite des Königs in München ganz artig seine Verbeugung machen wird - eine Verbeugung vor einem Mann, der mit den Sozialisten ebensogut zusammenarbeitet wie vorher mit den Konservativen.

Es sind übrigens ausgerechnet die geschmähten Sozialisten, die für den Verbleib Spaniens in der NATO werben, während die Konservativen aus billigen taktischen Überlegungen, ihren Anhängern für das Referendum Stimmenthaltung empfehlen.

Daß die Sozialisten früher gegen die NATO getrommelt haben, ist unerheblich. Wichtiger ist doch ihre Erkenntnis, daß ihr Land bei der Anbindung an Europa neben den Vorteilen, die es langfristig aus der EG zieht, auch die Lasten - nämlich die gemeinsame Verteidigung - zu übernehmen hat.

Der König hat zu diesem Umdenken beigetragen. Als oberster Befehlshaber der Streit¬kräfte ist es ihm gelungen, die verkrusteten Strukturen des Militärs aufzubrechen und das nationalistische Denken der Offiziere ein we¬nig zu europäisieren. Zwar sind die wenigsten von ihnen aufrichtige Demokraten, doch ein Aufbegehren oder gar ein Putsch gegen die Regierung ist kaum noch vorstellbar. Die Restauration der Bourbonen-Monarcstauration hie - eigentlich ein Anachronismus im 20. Jahrhundert - erwies sich auch so gesehen als ein Treffer. Juan Carlos ist beliebter als jeder Politiker im Lande, er ist das Rückgrat und der Garant der Demokratie.

Er ist zudem Symbolfigur für ein junges Spanien, das auch kulturell und wirtschaftlich den Anschluß an die Moderne sucht. Madrid als derzeit flotteste Hauptstadt Europas, wo künstlerisch mit überbordender Freude experimentiert wird, und die Kooperation zwischen VW und SEAT nur zwei Beispiele unter vielen sind.

Spanien hat aber auch zu geben - nicht nur die seit Jahrzehnten beliebten Sonnenstrände, sondern eine Kultur mit griechischen, römischen und maurischen Wurzeln sowie historische Verbindungen zu Lateinamerika und der arabischen Welt. Nützliche Verbindungen auch für uns, wenn wir die Probleme dieser Regionen besser verstehen wollen. Besseres gegenseitiges Verstehen zwischen Deutschen und Spaniern - dafür wirbt Juan Carlos, der Bürgerkönig, auch bei seinem Besuch in der Bundesrepublik.





Wie einmal zwei Wale das Ende der politischen Eiszeit einläuteten

Wir hacken mit!

1988 / Das Eis schien gebrochen. Die beiden waren auf dem richtigen Weg. Ronald Reagan betete für den Erfolg. Millionen Menschen bangten mit ihm. Die Rede ist nicht von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow - die Rede ist von jenen zwei Walen, die uns seit dem 7. Oktober so ans Herz gewachsen sind.

Für „Stern“-Redakteur Michael Jürgs ist die Rettungsaktion eine einzige Schande. Nach tiefschürfenden Betrachtungen über den Wal als Archetypen aus dem kollektiven Unterbewußtsein der Menschheit kommt er auf den linken Punkt: „Die Absurdität des Unternehmens angesichts des achselzuckenden Hinneh¬mens viel schlimmerer Katastrophen ist zum Verzweifeln.“ Ach Gott, ach Gott ...

Der verehrte Kollege scheint ohne Weitblick. Oder hat man’ s schon erlebt, daß Sowjets und Amerikaner gemeinsam um die Wette hacken, gemeinsam frieren, gemeinsam triumphieren? Die kleinen Eskimos begriffen sofort. Emsig sägten sie mit. Noch ihren Urenkeln werden sie von den fremden Männern erzählen, die anno 1988 generalstabsmäßig zu Werke gingen. Die Iglu-Bewohner haben eben Sinn für Märchen, in denen die Welt plötzlich schöner erscheint als sie ist.

Nicht nur sie. Auch der zivilisationsgeschädigte, der pessimistische Mensch in unseren Breitengraden will aus der Wirklichkeit ausbrechen. Zwei Wale und zwei Supermächte machten’ s möglich. Statt Raketen werden Stunden gezählt, statt Konfrontation Schulterklopfen: Bär und Adler im lebensrettenden Kampf um zwei Wale

Wem da nicht die Augen feucht werden, dem ist nicht zu helfen. Womit der Bogen zu Kohls Moskauer Tagen wieder geschlagen wäre. Auch da war die Show oft wichtiger als der Inhalt. Warum auch nicht? Hauptsache: das Eis bricht. Daß die Wale gestern abend wieder festsaßen, erhöht nur die Spannung. Weiterhacken! Wir hacken mit.





Sechs Jahre später ergab eine Schüler-Umfrage: Kühe sind lila!

Schmetterling und Wiesenblume

1989 / Wieder eine Umfrage, deren Ergebnis in die Irre führt. Bei den Zehntkläßlem an Gesamt- und Realschulen hapert’s mit dem Umweltwissen, verkündet der Kieler Pädagogikprofessor Reinhard Damuth. Sicher, auf den ersten Blick liest es sich betrüblich, daß 20 Prozent der Befragten keinen Schmetterlinu, keine Wiesenblume nennen können. Aber ist das die ganze Wahrheit? Immerhin weiß die überwältigendeMehrheit besserBescheid. Und Hand aufs I lern: Wie steht es hei den Erwachsenen? Gänseblümchen, Dotterblume, Pechnelke Und?

Zudem kommtdie Unkenntnis nicht von nauefähr. Wo blühen denn heute noch Wiesenblumen, wo tummeln sich Schmetterlinge? Schädlingsbekämpfung und chemische Dün¬gung haben weitgehend für Tabula rasa gesorgt. Längst vorbei sind die Zeiten, als Mäd¬chen Blumen preßten, Buben mit der Botanisiertrommel loszogen. Wo aber nichts ist, kann nichts gesehen, also auch schwer gelernt werden.

Daß die Jugendlichen keineswegs Umweltmuffel sind, zeigt der zweite Teil der Umfrage. Zwei Drittel kennen den Zusammenhang zwischen Schwefeldioxidausstoß und dem sauren Regen, und 70 Prozentwissen, daß Fluorchlorkohlenwasserstoffe schädliche Treibgasesind.

Das beweist, daß die Kinder die Welt durchaus initoffenen Augen sehen, daß sie dieNachrichten über die Umweltgefährdung aufnehmen. Vielleicht sind sie, was Chemie und Technik anbetrifft, ihren Eltern sogar überlegen. Fluorchlorkohlenwasserstoffe, Schwefeldioxid - darüber Bescheid zu wissen, ist heute sogar wichtiger, als einen Kohlweißling von einem Zitronenfalter zu unterscheiden. Es ist nachgerade Mode geworden, über die Ignoranz der Jugend zu jammern. Dabei wird gern vergessen, daß Bildung immer neue Inhalte erhält. Wußten die Kinder früher, daß Amsel, Drossel, Fink und Star zu den Zugvögeln gehören, brüten sie jetzt über Computern oder basteln in ihren Labors. Und die Erwachsenen? Sie verstehen nur Bahnhof.





Schwierige Begriffsbestimmung

Wirklich arm?

1992 / Über den Begriff der Armut läßt sich lange streiten. Wer früher als ausreichend versorgt galt. kann heute zu den Armen zählen. Noch schwieriger wird es, wenn wir die Armut weltweitdefinieren wollen. Arme in Industriestaa¬ten wie Amerika oder Rußland, Arme in der Sahelzone oder Bangladesch: die Bandbreite ist enorm, Vergleiche sind nicht möglich. Sicher ist nur: Gemessen an der Armut in diesen

Ländern ist die Armut in Deutschland ein marginales Problem. Wer wollte allerdings leugnen, daß es hierzulande Menschen gibt, die nur mühsam über die Runden kommen. Da sind die alleinerziehenden Mütter, Rentner. Langzeitarbeitslose, vermehrt auch junge Leute, die sich irgendwie durchwursteln. Aber kann von wirklicher Armut gesprochen werden?

Da es keine offiziellen Statistiken gibt, ist die Zahl der Betroffenen nur zu schätzen. Dennoch wird immer wieder so getan, als oh Antut auf Punkt und Komma zu berechnen sei. Sogar Armutsforschung gibt es unterdessen - eine unwissenschaftliche Disziplin, die wohl gerade deswegen besonders selbstbewußt daherkommt. So legte vor kurzem der DGB einen Bericht vor, der 1,2 Millionen Anne zählt. Das wären zweieinhalbmal so viele wie vor zwanzig Jahren.

Andererseits gibt es die Nachricht, daß die Zahl der Reichen gestiegen ist. Das muß kein Widerspruch sein. Die große Kluft zwischen Armen und Reichen ist in den USA längst als soziales Problem ersten Ranges erkannt. Auch in Ländern der Dritten Welt zerfallen die Gesellschaften in zwei Blöcke: hier eine relativ kleine wohlhabende Schicht aus Politik und Wirtschaft, dort die Masse der Elenden, die krank und hungernd ihr Leben fristen.

Auch in der Bundesrepublik gibt es Tendenzen, überdienachzudenken ist. Die Wiedervereinigung hat zwei Systeme zusammengeführt, in denen viele Wohlhabende, aber auch sozial und wirtschaftlich Schwache leben. Das Schlagwort von der Zweidrittelgesellschaftbeschreibt zwar nur unzulänglich die Lage, doch wir müssen aufpassen, daß der soziale Konsens erhalten bleibt.

Das hat aber nichts mit einer angeblichen Annutswelle zu tun. Schon vor Jahren hat der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister

Heiner Geißler behauptet, es gebe mindestens zwei Millionen Arme. Als die CDU dann an die Regierung kam, war davon nicht mehr die Rede. Zu Recht, denn das Gerede über die Armut ist damals wie heute diffus und wenig hilfreich.

Unbestritten ist, daß die Ausgaben für die Sozialhilfe kräftig steigen. Aber Sozialhilfeempfänger sind keine Armen, wenn man den Begriff der Armut nüchtern bewertet. Keiner, der staatliche Hilfen in Anspruch nimmt, muß hungern. Für seine medizinische Betreuung ist gesorgt. Auch hat er in der Regel ein Dach über dem Kopf. Finanziell sieht die Situation etwa so aus: Ein Ehepaar mit zwei Kindern erhält im Schnitt 1.584 Mark, daneben rund 300 Mark für einmalige Leistungen wie etwa Kleidung. Fiir die Wohnung, so es eine gefunden hat, kommt die Gemeinde auf. Auch Heizung und Nebenko¬sten sind umsonst. Zusammengerechnet ergibt das etwa 3.000 Mark. Davon ist bescheiden zu leben.

Es ist geradezu peinlich, angesichts des Elends in derWelt hier von Armut zu sprechen. Schon vor zwei Jahren hat der bayerische Sozialminister Alois Glück einen von der SPD geforderten Armutsbericht deshalb abgelehnt, weil dadurch Armut herbeigeredet werde. In der Tat: Wer zieht die Grenzen und wer will eigentlich den Betroffenen sagen, sie seien arme Leute? Soziales Engagement bekommt da schnell eine arrogante Komponente.

Armut ist wohl eher ein subjektives Gefühl. Dafür spricht, daß viele die ihnen zustehenden Leistungen gar nicht in Anspruch nehmen, angeblich aus Scham, zum Sozialamt zu gehen. Sicher muß man sich einen Ruck geben, aber wer wirklich nichtweiß, wie er leben soll, wird sich nicht zieren.

Armut und Unterversorgung sind immer relative Phänomene. Armut in der reichen Bundesrepublik fängt woanders an als in den meisten Ländern der Welt. Von der allgemeinen Wohlstandsmehrung der letzten Jahrzehnte haben auch die Schwachen profitiert. Da wirken die Klagen über eine verarmende Bundesrepublik als Panikmache.





Von der Politik hintergangen

Wehleidige Jugend

1991 / Vertrauen und Glaubwürdigkeit gehören zu den wesentlichen Merkmalen politischer Kultur. Man könnte auch sagen, Politik und Moral seien ohne sie nicht in Einklang zu bringen. Das hört sich zwar gut an, ist aber in der Praxis - Hand aufs Herz - nur selten ideal verwirklicht.

Die Jugend zieht aus dieser Realität ihre besonderen Schlußfolgerungen: Nach Umfra­gen fühlen sich 80 Prozent der Jugendlichen von der Politik hintergangen. Jeder zweite traut Politikern nicht zu, zukunftsbedrohende Herausforderungen zu meistern. Das vernich­tende Urteil entspricht dem Urteil der Gesamt­bevölkerung. Auch sie unterstellt in ihrer Mehr­heit den Volksvertretern eher Eigennutz als Gemeinnutz, eher Unwahrheit als Wahrheit. Also war es wieder einmal Zeit, im Bundes­tag über Jugendpolitik zu debattieren. Dabei ist - wie hätte es anders sein sollen - nichts herausgekommen Man tauschte altbekannte, biedere Argumente aus. Das angeordnete Nach­denken über die Jugend verkümmerte zum Ritual. Schade.

Doch darf man anderes erwarten? Kann ein Parlament über die Jugend, ihre Sorgen, Wünsche und Interessen überhaupt befriedi­gend befinden? Wird hier nicht wieder einmal der Politik zu viel aufgebürdet?

Die Frage stellt sich besonders an die Betrof­fenen selbst. Die Antwort ist nicht gerade schmeichelhaft. Viele Jugendliche schimpfen wahllos über die Volksvertreter, ohne sich für Politik und ihre Zusammenhänge überhaupt zu interessieren. Ihr Einsatz für den Umwelt­schutz ist zwar nicht genug zu würdigen, aber reicht das? Jugendliche in Brandenburg sind vor kurzem danach gefragt worden, wer sie eigentlich regiere. Den Ministerpräsidenten Stolpe kannten alle, aber dann war großes Schweigen. Nach 40 Jahren Unfreiheit und lediglich verordneten Aktivitäten, wäre mehr Engagement zu erwarten. Doch in den neuen Bundesländern ist der Konsum weit wichtiger: Die Jeansjacke, das Videogerät und die Cow­boystiefel. Man kann das verstehen. Aber dann bitte keine Pauschalurteile. Das ist zu bequem.

Dabei gäbe es in der ehemaligen DDR tau­send Aufgaben, denen sich die Jugendlichen in eigener Verantwortung annehmen könnten. Muß denn die Politik immer das Händchen führen. Es ist doch seltsam: einerseits klagt die Jugend über das Desinteresse der Politiker an ihren Problemen, andererseits wird jede Einmi­schung argwöhnisch beäugt.

Bundesjugendministerin Angela Merkel meinte in der Bundestagsdebatte, die Jugendli­chen wollten sich nicht von Erwachsenen und schon gar nicht von Politikern ihre Lebensräu­me zuweisen lassen. Sie wollten selbst gestal

ten und entscheiden. Das klingt richtig lieb, ist aber ziemlicher Unsinn. Wer verbietet es zum Beispiel jungen Leuten, im Ortsverein poli­tisch mitzugestalten, karitativ tätig zu werden oder im Bereich der Kultur etwas auf die Beine zu stellen?

Aber es ist leider eine allgemeine Erschei­nung in der Gesellschaft. Es wird erwartet, daß der Staat seine Leistungen und Angebote auf dem Silbertablett abliefert. Kommt es dann zu Einschnitten, wie jetzt wegen der deutschen Einheit, hebt das Wehklagen über die Unglaub­würdigkeit der Politik an.





Aids - die Seuche von heute?

Plädoyer für Vernunft

1992 / Die Beschäftigung mit der Immunschwäche Aids war von Anfang an irrational. Grauen­hafte Szenarien wurden entworfen. Ein ameri­kanischer Arzt prophezeite, daß frühere Seu­chen, eingeschlossen die Pest, im Vergleich harmlos wirken würden. Auch und gerade in der Bundesrepublik wurden die Katastrophen­hunde wieder einmal von der Leine gelassen. Zynisch meinte Hans-Dieter Pohle, Chefarzt i m Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus, die „Sache mit der Überbevölkerung habe sich erledigt. HIV sei für alle Überraschungen gut. Sogar für das Ende der Menschheit“.

Selbstverständlich ist Aids eine böse Krank­heit. Doch Krebs, Diarrhöe, Malaria und Herz­erkrankungen fordern zigmal mehr Leben als die HIV-Infektion. Experten, die darauf hin­wiesen, daß die Ansteckungsmodalitäten kom­pliziert sind, wurden als Verharmloser ge­brandmarkt. Aber immer noch wird in Illu­strierten der Mut einer Prinzessin Diana oder einer Liz Taylor gepriesen, weil sie Kranken die Hand gegeben hätten.

Es ist schon so: Aids ist auch eine politische Krankheit mit religiösen Einsprengseln. Un­gute Geschäfte machten die Medien, allen vor­an der „Spiegel“ und andere Wochenblätter. Aids wurde verkauft als heiße Ware. Medizini­sche Informationen dagegen gab es wenig. Man zeigte lieber die hundertste Schwulen- Bar oder Heroinsüchtige, verkaufsträchtig mit schlüpfrigen Anspielungen verquickt. Die meisten Ärzte hatten anfangs nur wenig Ah­nung - manche hauten nichtsdestotrotz auf die Pauke.

In Amerika entwickelte sich sehr schnell eine Aids-Charity. Prominente sammelten Geld. Nur wer ordentlich bezahlte, wurde zu den großen Aids-Partys eingeladen. Da war sicher echtes Mitleid dabei und ist es heute noch. Doch die Show-Elemente richteten auch Schaden an.

Das Irrationale wurde noch mehr gefördert. Zudem sind manche Dollarbeträge in falsche Taschen geflossen.

Bei Aids dagegen reden viele, ohne wirklich eine Ahnung zu haben. Wer erinnert sich zum Beispiel noch an die Warnung vor dem Friseur, an die Warnungen vor dem gemeinsamen Sport von Gesunden und Kranken? Und wer erinnert sich noch an jene Krankenschwestern und Ärz­te, die sich Infizierten nur mit Mundschutz näherten? Auch die Behauptung, die Prostitu­ierten übertrügen die Krankheitenmasse, ist mit Vorsicht zu genießen. Da wird von Män­nern das Blaue vom Himmel heruntergeschwindelt. Der Kontakt mit einer Prostitu­ierten kann zur Not zugegeben werden. Aber ein „Fehltritt“ mit einem Homosexuellen?

In die Aids-Diskussion ist Gott sei Dank etwas mehr Ruhe und Vernunft eingekehrt. Doch noch immer ist Aufklärung notwendig. Die meisten schauen weg, viele Ärzte sind schlecht informiert, weil Aids-Kranke meist von Spezialisten behandelt werden. Zur Panik jedenfalls gibt es keinen Anlaß.





Über Transplantationen und Kunstherzen

Der magische Muskel

1987 / Kein Organ fasziniert den Menschen so wie sein Herz. Hört der Muskel auf zu schlagen, erlischt das Leben. Doch das Herz gilt mehr als eine Pumpe. Es kann hüpfen vor Freude, vor Schreck in die Hose sinken, es kann jagen oder verzagen. Und nichts reimt sich so schaurig schön wie Herz auf Schmerz. Die Herzense­güsse der Dichter füllen Bibliotheken.

Kein Wunder daher, wenn jeder medizini­sche Eingriff am Herzen die Herzen bewegt. Das war vor 20 Jahren so, als Christian Barnard die erste Transplantation wagte, und es ist jetzt so, da andere ein Kunstherz entwickeln und erproben. Wieder geht es um die Frage nach der medizinischen Ethik und der ganz allgemei­nen: darf Wissenschaft alles tun, was sie kann?

Standeskollegen von Prof. Emil Bücherl, der bisher zweimal vergeblich versuchte, Todkran­ke durch eine Pumpe aus Kunststoff und Titan zu retten, haben bereits ihr Urteil gefällt. Nach Recherchen der „Zeit“ sollen sie sich ihr Ent­setzen übers Telefon zuraunen. Sie seien alar­miert vom zunehmenden Mißtrauen der Pati

enten und Angehörigen gegenüber Transplan­tationen, Organspenden, ja der hochtech­nisierten Gerätemedizin schlechthin. Das Ham­burger Wochenblatt gab sich ebenfalls schok­kiert. Der Berliner Professor habe, besessen von der Idee, den Nutzeffekt des von ihm entwickelten Kunstherzens endlich zu bewei­sen, todgeweihte Patienten qualvollen Proze­duren unterworfen.

Hier wird Stimmung gemacht, anstatt sich kritisch mit einem heiklen Thema auseinan­derzusetzen. Allein die abwertend gemeinte Bemerkung, Bücherl sei von einer Idee be­ sessen, zeigt den unwissenschaftlichen An­satz. Denn wo stünden die Wissenschaften, hätte es nicht immer wieder Frauen und Män­ner gegeben, die von einer Idee besessen waren, die allen Hindernissen und Vorurteilen zum Trotz das schier Unglaubliche in die Tat umsetzen? Barnard gilt heute als einer der großen Pioniere in der Medizin, warum nicht eines Tages auch Bücherl? Wissenschaftlicher Fortschritt vollzieht sich doch nicht in stets aufsteigender Linie, sondern ist geprägt von Erfolgen und Rückschlägen.

Bücherls Bilanz ist so gesehen keineswegs niederschmetternd. Zwei Menschen starben bisher, die - man muß das nüchtern sehen - auf jeden Fall gestorben wären. Zum Vergleich die Entwicklung der Transplantationen mit leben­den Herzen: Überlebten anfangs 80 Prozent der Operierten das erste Jahr nicht, sind die Zahlen heute genau umgekehrt. 80 Prozent der Patien­ten leben über ein Jahr und länger. Der Eingriff ist fast zur Routine geworden. Rückblickend ist auch hier nüchtern festzuhalten: Wer fragt jetzt noch nach den Niederlagen von einst und den ebenfalls psychisch und physisch „qual­vollen Prozeduren“, denen sich die ersten Men­schen mit fremden Herzen zu „unterwerfen“ hatten? Überall in der Welt warten unheilbar Herzkranke sehnlichst auf ein Spenderherz, müssen aber sterben, qualvoll, wie man anneh­men muß, weil geeignete Organe nicht recht­zeitig vorhanden sind.

Diese Lücke wollen Bücherl und andere Kunstherz-Experten schließen. Der Patient soll so lange am Leben erhalten werden, bis ein ver­trägliches Organ gefunden ist. Diese Methode ist bei der Nierenverpflanzung - erst künstliche Niere, dann die Niere eines Verstorbenen längst üblich und bewährt. Warum soll sie nicht auch bei der Herzverpflanzung Erfolg haben?





Transplantation und Ethik

Die Organspende

1990 / Es ist ein alter Traum der Menschen, kranke Organe durch Transplantation von gesunden Organen zu ersetzen. Schon im Mittelalter hat man diese Möglichkeiten bedacht. So wird auf Bildern gezeigt, wie die Heiligen Kosmas und Damian einen Mann heilen, indem sie sein krankes Bein mit dem eines verstorbenen Ne­gers tauschten.

Was damals noch unmöglich war, ist längst Wirklichkeit geworden. Heute werden Herz und Nieren sowie zahlreiche andere Organe verpflanzt. Vielen Menschen wird so das Le­ben erleichtert oder gar gerettet. Die Erfolgs­quoten steigen kontinuierlich, und Transplan­tationen gelten unterdessen als Routineeingriff. Medizinisch gibt es also kaum noch Probleme.

Das Dilemma liegt vielmehr in der Diskrepanz zwischen der großen Zahl der Patienten, die einer Transplantation bedürfen, im Verhältnis zu einer geringeren Zahl von trans­plantationsfähigen Organen. Die Nachfrage

übersteigt bei weitem das Angebot. Entsprechend lang sind die Wartezeiten: Kinder war­ten etwa ein Jahr, Erwachsene zwei bis drei Jahre, am Leben erhalten durch Dialyse, auf eine neue Niere. Für todgeweihte Herzkranke benötigte man zur Lebensrettung etwa viermal so viele transplantationsfähige Organe wie zur Verfügung stehen, bei der Leber sieben­mal soviel.

Angesichts dieser Situation sind daher Überlegungen verständlich, die Zahl der Organ­spender zu erhöhen. Doch die Kampagne, die jetzt in München gestartet wurde, stimmt be­denklich. Der ehemalige Dekan der Universität, Wolfgang Spann, und Ernst Rößner von der „Arbeitsgemeinschaft Organspende“ ge rierten sich allzu penetrant als Moralapostel: Die Organspende nach dem Tod gehöre zur Sozialpflicht jeden Bürgers, schließlich sei ein Toter nicht mehr als die sterbliche Hülle eines Menschen. Rößner prangerte die „Skandalöse Gleichgültigkeit“ der Bundesregierung an, die noch immer kein Transplantationsgesetz zu­stande gebracht habe. Das sei, so der streitbare Interessenvertreter, eine Verletzung des Grundrechts aufkörperliche Unversehrtheit. Die beiden befürworteten gleichzeitig die sogenannte Widerspruchslösung: Wer nicht ausdrücklich erklärt hat, er sei gegen eine Organspende, gilt automatisch als potentieller Spender.

So geht es nicht! Wieso werden jene in die Ecke gestellt, die aus durchaus nachvollzieh­baren Gründen eine Transplantation ablehnen, warum wird hinterhältig auf die Vergeßlichkeit der meisten Menschen gesetzt? Denn wer denkt schon daran, eine Organverpflanzung nach seinem Tod ausdrücklich auszuschließen?

Es mag sein, daß es wissenschaftlich gesehen keine Einwände gegen Transplantationen gibt. Sehr wohl aber gibt es nachvollziehbare Vorbehalte gegenüber der Technik und der Mei­nung, alles sei machbar. Ereignisse der letzten

Jahre, zum Beispiel die Challenger-Katastrophe, der Reaktorunfall in Tschernobyl, die Umweltverschmutzung und auch die von vielen erlebten Grenzen von Gesundheitsfürsorge und entsprechenden Sozialtechniken, haben Ängste geweckt, die nicht salopp als sozial­widriges Verhalten abgetan werden können. Man erinnere sich zudem an die fast kriminel­len Aktionen eines Grafen Adelmann, der einen Handel mit Organen aufziehen wollte und dabei die materielle Not mancher Spender schamlos ausnutzte.

Selbstverständlich ist Spenden als Akt christlicher Nächstenliebe lobenswert, aber alle Maßnahmen, die hier Nachdruck verleihen sollen, haben den Respekt vor der Selbstbestimmung und der Menschenwürde zu wahren. Spann und Rößner erwecken dagegen den Eindruck, sie wollten diese Selbstbestimmung bschneiden. Und ist es wirklich unerläßlich, so heikle Vorgänge wie eine Organverpflanzung bis ins Detail gesetzlich zu regeln?

Bleibt denn gar nichts mehr tabu? Die derzeitig gültige Regelung ist dagegen durchaus angemessen: Wer spenden will, soll das sagen. Sonst erscheint eines Tages noch die Pflicht zur Organspende denkbar. Solchen Be­fürchtungen wird mit dem Ruf nach Gesetzen und der moralischen Qualifizierung leichtfertig Vorschub geleistet.





Zwischen Grundgesetz und Emotion

Asyl und Menschenrechte

1985 / Das Asylantenproblem ist bedrückend. Noch bedrückender wird es dadurch, daß einige mit recht flotter Zunge darüber reden. „Wir haben“, so behauptet etwa der Berliner Innense­nator Lummer, „ein Asylrecht, da kann die ganze Rote Armee kommen und der KGB dazu.“ Und Franz Josef Strauß meinte in einem denkwürdigen Satz: „Wenn sich die Lage in Neukaledonien wieder zuspitzt, werden wir bald die Kanaken im Land haben.“ Zwei Stim­men von vielen. Kein Wunder, daß das Thema zusehends mit Emotionen beladen wird, und daß man mit dem Gedanken spielt, am Artikel 16 des Grundgesetzes, der politisch Verfolgten unzweideutig Asyl garantiert, herumzudoktern.

Um es noch einmal zu sagen: Das Asylanten­problem ist bedrückend. Daher besteht kein Zweifel, daß im Rahmen des Menschlichen das Mögliche getan werden muß, um die Zahl der Asylanten zu verringern, ohne den Betroffenen Schaden zuzufügen. Das ist leichter gesagt als getan, aber mit etwas gutem Willen nicht un­möglich.

Da sich die Bundesrepublik zu den allgemei­nen Menschenrechten bekennt, sollte zu die­sem guten Willen gehören, daß politische Ent­scheidungen auch menschenrechtlich zurecht- fertigen sind. Daran hapert es aber. Da Artikel 16 des Grundgesetzes den Begriff der politi­schen Verfolgung nicht definiert, wird die Ab­grenzung der politischen Verfolgung zu asyl­rechtlich unbeachtlichen Bedrohungen und Re­pressionen von Fall zu Fall getroffen.

Diese Unsicherheit führt zu Urteilen, wie sie das Oberverwaltungsgericht Lüneburg dieser Tage verkündet hat. Danach haben Türken, die be fürchten müssen, nach ihrer Heimkehr gefoltert zu werden, keinen Anspruch auf Asyl.

In der Begründung heißt es, Übergriffe wie Folterungen könnten teilweise durch die traditionsbedingte Einstellung der Türken zur Gewalt erklärt werden. Zum Teil seien sie auch auf das Selbstverständnis der Sicher­heitskräfte in der Türkei zurückzuführen, die dieses Mittel zum Schutz ihres Staates nicht für verwerflich hielten.

Das sind Sätze, die beklommen machen. Anstatt Politik an unseren Menschenrechts­grundsätzen zu messen, wird hier die strafrechtliche Definition des Verfolgerstaates über­nommen. Das aber kann nicht Sinn eines Asylrechtes sein, wie es im Grundgesetz in unmit­telbarer Erinnerung an die Mißachtung menschlicher Werte während des Dritten Reiches ge­schaffen wurde. Denn dem Selbstverständnis der Nationalsozialisten entsprach es ja eben­falls, mit allen Mitteln ihren Staat zu schützen.

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg steht nicht allein. So hat auch das Verwaltungsgericht Düsseldorf befunden, da in manchen Ländern Kriminelle und politische Gegner gleichermaßen gefoltert würden, sei Folter an sich kein Asylgrund. Kurzum: Si­chert sich ein Staat seinen Bestand mit Folter, Massaker und Völkermord, so ist dies nach der herrschenden Rechtsprechung nicht ohne weiteres „politisch“ im Sinne des Asylrechts. Beim Begriff der politischen Verfolgung wird also differenziert zwischen politisch motivierten Unterdrückungen einerseits und menschenrechtswidrigen Beeinträchtigungen anderer­seits.

Diese Aufspaltung ist gefährlich. Und sie führt zwangsläufig zu Argumentationen, die weder juristisch noch sonstwie überzeugen. Die in der Türkei angewendeten Gesetze seien Ausdruck des staatlichen Ordnungswillens in der jeweils konkreten zeitgeschichtlichen Situation, heißt es im Lüneburger Urteil. Übergriffe fänden ihre Erklärung in der traditionsbedingten Einstellung der Türken zur Gewalt, wie sie sich auch in der Kindererziehung nie­derschlage.

Mit solch fragwürdigen Aburteilungen anderer wird das Asylrecht zur beliebigen Anwendung freigegeben. Vor allem wird übersehen, daß Menschen ja gerade wegen des „staatlichen Ordnungswillens in der jeweils konkreten zeitgeschichtlichen Situation in ihren Ländern“ in unserem Land Schutz suchen. Denn wo keine Gewalt herrscht, braucht niemand ins Exil zu gehen. Daran sollte das Asylrecht gemessen werden und nicht an durchsichtigen Aussperrungsmotiven.

Türken und Neger müssen draußen bleiben, weil in ihren Ländern „traditionsgemäß“ Gewalt herrscht, Ostblockasylanten dagegen werden herzlich aufgenommen, weil sie gegen die nicht minder traditionsgemäße Gewalt in ihrem Land aufbegehren. Das ist das Ergebnis einer kümmerlichen Argumentation, die sich an wirtschaftlichen und politischen Interessen, nicht aber an den Menschenrechten ausrichtet.


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Verbrechen im Ostblock - keine Novität

Neue Offenheit ...

1989 / In Diktaturen läßt sich’s sicher leben. Da können Frauen nachts auf die Straße, da achtet jeder das Eigentum des anderen, da wimmelt es nur so von anständigen Menschen. Diesen Unsinn verbreiteten die Nationalsozialisten ebenso wie die Kommunisten. Dabei ist erwie­sen, daß die Kriminalität im Dritten Reich nicht zurückgegangen ist. Sie wurde lediglich totgeschwiegen. Jahrzehntelang operierte man im Ostblock, auch in China, mit demselben Trick. Seltsamerweise fielen viele auf diese plumpe Methode herein.

Noch heute hört man ja noch: Unter Hitler wäre dies und das nicht möglich gewesen. Und selbst Gegner des Kom­munismus ließen sich dazu hinreißen, zumin­dest die scheinbare Zucht und Ordnung in dessen Herrschaftsbereich zu loben. Hier tra­fen sie sich mit den Utopisten von der Linken, die vom neuen, guten Menschen träumten.

Der Traum ist endgültig zerstoben. Schon nach dem Tod Maos, dessen angeblich so brave blaue Ameisen auch im Westen Bewun­derer hatten, wurde die ideologische Lüge of­fenbar. Mehr noch: Es zeigte sich, daß Dikta­turen das Verbrechen geradezu begünstigen. Plötzlich erreichten uns Nachrichten über Kor­ruption, Mädchenhandel und Gewaltverbre­chen. Kein Wunder, denn in einem totalitären System werden die Bürger geradezu gezwun­gen, in Grauzonen abzutauchen, um zu überle­ben.

Dies zeigt sich jetzt auch in der Sowjetunion, wo Verbrecherbanden, oft mit den Parteifunktionären auf gutem Fuß, ihr Unwesen treiben. Dieser Klüngel gehört zu den erbittertesten Feinden der Politik Gorbatschows. Ein einigermaßen funktionierendes Rechtswesen auf-

Strafverfolgung allein sind nicht alles. Ändern muß sich vor allem die Einstellung der Bürger zum Staat, der bisher als Feind nur geschröpft wurde. Dabei kann es hilfreich sein, daß die Führung endlich das ganze Ausmaß der Misere zugibt und die Zusammenarbeit mit dem We­sten sucht.


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Zur Weihnachtszeit sind die Menschen mild gestimmt

Helfen, aber wie?

1987 / Zur Weihnachtszeit sind die Menschen mild gestimmt, ihre Herzen gehen auf Viele blicken über den Rand des Plätzchentellers hinaus. Und was sehen sie? Sie sehen das Elend dieser Welt, den Hunger und die Armut. Und nicht alle sind so knausrig wie jene 600 Gäste bei einer Prominenten-Hochzeit, die bei der kirchlichen Kollekte „Brot für die Welt“ lediglich 2.300 Mark aufbrachten - jeder einzelne im Durchschnitt also gerade etwas mehr als 3,80 Mark.

Nein, im Spenden sind die Deutschen Weltmeister. Sie schnüren Päckchen für die Polen und Rumänen, sie geben für Äthiopien und Bangladesch. Nörgler meinen freilich, die Wohlstandsbürger wollten nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen. Es wäre ja noch schöner, ließe man einmal das Gute auch gut sein. Laut Statistik spenden gerade ältere Menschen, die keineswegs in blendenden Verhältnissen leben, besonders großzügig. Sie erinnern sich eben noch an die Jahre des eigenen Elends und üben daher Solidarität, anstatt nur darüber zu schwatzen.

Vor 25 Jahren wurde die „Deutsche Welthungerhilfe“ gegründet. Der Bundespräsident lobte den Einsatz der Organisation, die wie viele andere „Oasen humaner Solidarität ge­schaffen hat, in denen Menschen neuen Lebensmut und Lebenswillen schöpfen“. Das sind lobende Worte, wie sie zu einer Festrede gehören. Doch Richard von Weizsäcker blieb um der Harmonie willen nicht an der Oberfläche. Wenn die industrialisierten Länder, so der Bundespräsident, ihre Verantwortung für die Überwindung der Krisen im Süden nicht erken nen, werde es den selbstlosen Hilfsorganisationen nicht gelingen, die Not und den Hunger einzudämmen. Zudem müsse Selbsthilfe, wenn sie langfristig tatsächlich zu einem Motor der sozialen Entwicklung werden solle, mehr als bisher denjenigen, die Hilfe empfangen, Eigenständigkeit und Eigenverantwortung einräumen.

Die Erkenntnis ist nicht brandneu. Schon seit einigen Jahren fordern immer mehr Experten ein Umdenken - bei Gebern und Nehmern. Das gilt in erster Linie für die Entwicklungsländer selbst, die sich zu einer Flurbereinigung durch­ringen müssen, bei der unter anderem die An­reize für die Bauern verbessert werden. Was in Indien und China zu einem beachtlichen Erfolg geführt hat, sollte Modell für andere Länder sein. Denn auch in der Dritten Welt können die Menschen rechnen. Das heißt: Die Landwirte produzieren zögernd, weil sich eine Mehrproduktion nicht lohnt. In dieser Situation sind viele Länder Afrikas und Lateinamerikas. Dort werden die Erzeugerpreise von der Regierung festgelegt, um das städtische Proletariat politisch bei Laune zu halten. Aber Höchstpreisvorschriften verknappen immer das Angebot - das ist in der Landwirtschaft nicht anders. Hinzu kommt, daß die wirtschaftliche Entwicklung immer noch mit Industrialisierung gleichgesetzt wird, trotz der mittlerweile fatalen Folgen.

Aber auch in den reichen Ländern der Welt liegt vieles im argen. Auf dem Agrarsektor hat sich ein Protektionismus und Subventionismus breitgemacht, der den Weltmarkt in eine fatale Schieflage bringt. Sicher: ohne Reglementierungen geht es nicht, die heimische Landwirt­schaft bräche zusammen. Doch die künstlich verbilligten Überschüsse in die Dritte Welt zu verschleudern oder über Hilfsprogramme in sie hineinzupumpen, heißt den Widersinn auf die Spitze treiben.

Nur eine einigermaßen marktkonforme Agrarpolitik der Industrieländer wäre wirk­liche Hilfe. Direkte Nahrungsmitteltransporte sind lediglich im Katastrophenfall berechtigt. Werden sie dagegen zur Dauereinrichtung, so

entsteht mehr Schaden als Nutzen: Die Emp­fänger schieben Maßnahmen zur Förderung der heimischen Landwirtschaft hinaus; die Bauern werden entmutigt; unter der Bevölke­rung entsteht eine Bettlermentalität, die die Eigeninitiative lähmt. Ganz zu schweigen da­von, daß viele Hilfsgüter in dunklen Kanälen verschwinden.

Jahrzehntelange Fehlentwicklungen sind nicht hopplahopp zu korrigieren. Und Krisen­management, an dem viele auch noch gut ver­dienen, ist verlockender als das schwierige Geschäft grundlegender Reformen. Doch wem es mit der Bekämpfung des Hungers wirklich ernst ist, der spendetnicht nur, sondern hilft im besten Sinn des Wortes: selbstlos.


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Wie kann man den Entwicklungsländern wirklich helfen?

Reiche und Arme

1987 / Veränderungen auf den internationalen Wa­renmärkten nicht rechtzeitig erkannt wurden. Auch kann niemand leugnen, daß das Profit­streben der reichen Länder und ihrer Geldinsti­tute gelegentlich im Bereich des Anrüchigen siedelt.

Aber gerade dieses Profitstreben hat jetzt - dem Kapitalismus sei Dank - zu einem Umden­ken geführt. Um es grob zu sagen: Man hat erkannt, daß mit armen Schluckern auf Dauer keine Geschäfte zu machen sind. Denn wer nichts hat, kann nichts kaufen.

Lange Zeit wurde versucht, den zunehmen­den Kapitalmangel der armen Länder durch ständig neue Kredite zu lindern. Dieses an sich vernünftige System kann allerdings nur dann funktionieren, wenn der Schuldner dank der Geldspritze in die Gewinnzone kommt. Aus verschiedenen Gründen ging diese Rechnung nicht auf. Zum einen investierten die Ent­wicklungsländer einen Gutteil der Mittel in unsinnige Prestigeobjekte, oft genug von den

Geldgebern dazu animiert. Zum anderen sack­ten die meisten Rohstoffpreise in den Keller. Die im Export verdienten Devisen fehlten dann für die Einfuhr von Maschinen und Ersatztei­len, schließlich auch für die Einfuhr von Le­bensmitteln. Zwar hat es Versuche gegeben, Rohstoffkartelle zu bilden, wirklich schlag­kräftig aber wurden sie nie. Denn in der Not brach immer wieder der eine oder andere aus dem Verbund aus.

Die Krise ist dramatisch. 1986 waren die Auslandsschulden der Entwicklungsländer mit gut tausend Milliarden Dollar neunmal so hoch wie 1973. Der jährliche Schuldendienst für Zins und Tilgung ist so hoch wie damals die gesamte Schuldenlast. Und 1985 haben die Entwicklungsländer mehr Geld an ihre Gläubi­ger zurückbezahlt, als sie von diesen über neue Kredite erhielten. Das ist zwar die logische Folge einer Entwicklung, die sich mit steigen

den Zinsen aus dem Marktmechanismus er­gibt, aber wohl kaum im Sinne einer vernünf­tigen Entwicklungshilfepolitik. Kein Wunder, daß einige Länder ihren Schuldendienst ein­fach vorübergehend einstellten.

Was ist zu tun? Alfred Herrhausen, Sprecher der Deutschen Bank, hat vor kurzem bei der gemeinsamen Tagung des Weltwährungsfonds und der Weltbank den wohl einzigen Weg aus dem Dilemma gewiesen: Teilweiser Schulden­erlaß und neu anfangen ist seine Devise, die er so deutlich allerdings nicht aussprach und auch noch einschränkte, als seine Kollegen wie elek­trisiert hochfuhren.

Doch letztlich dürften auch sie einsehen, daß es keine andere Lösung gibt. Denn besser ist ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Zudem kann gerade die Bundesrepublik daran erinnern, daß die politische Stabilität und die wirtschaftliche Entwicklung der zweiten deutschen Republik nach 1945 maßgeblich durch das Londoner Schul­denabkommen gefördert wurde, mit dem Bonn Schulden erlassen, Tilgungen gestreckt und die Zinslasten verringert wurden.

In die richtige Richtung geht auch die Über­legung von Entwicklungshilfeminister Klein, künftig den Ärmsten der Armen keine Kredite mehr, sondern nur noch verlorene Zuschüsse zu gewähren. Es hat ja in der Tat keinen Sinn, Leuten Geld zu leihen, von denen man von vornherein weiß, daß sie es nie zurückzahlen können.

Je eher man sich auf die Tatsachen einstellt und zu Vereinbarungen kommt, die den Schuld­nern Luft zum Atmen lassen und ihnen die Möglichkeit zu einer wirtschaftlichen Gesun­dung geben, desto schneller findet sich wieder eine Basis der weltwirtschaftlichen Zusam­menarbeit - zum Nutzen auch der Reichen.


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Nach der Wiedervereinigung

Freude und Würde

1990 / In diesen Herbsttagen des Jahres 1990 war viel davon die Rede, die Deutschen hätten aus der Vergangenheit gelernt, sie hätten sich verändert, ihre demokratische Grundeinstellung sei nicht mehr zu leugnen. Das freundliche Urteil war auch im Ausland zu hören. Selbst Israel, das zur Zurückhaltung allen Anlaß hätte, äußerte sich zuversichtlich und verständnisvoll.

Inwieweit sich Völker in ihrem Charakter verändern können, ist nur schwer zu beurteilen. Eine fundierte Einschätzung ist erst in der Rückschau möglich. Doch die Feiern zum Tag der Einheit ließen einen neuen Stil erkennen, einen Stil, der sich in den letzten 45 Jahren fast unbemerkt herausgebildet hat. Am 3. Oktober wurde schlagartig sichtbar, daß die Bundesrepublik - die Bürger und ihre Repräsentanten - eine ganz spezifische republikanische Tradition entwickelt haben.

Wie leicht hätte es an diesem Tag falsche Töne geben können, ein unzeitgemäßes natio­nales Gedröhne. Nichts davon. Alle Redner, die sich in der historischen Nacht an die Bevölke­rung wandten, zeigten Nachdenklichkeit und Takt; sie vermieden Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit. Die Zukunft priesen sie in hellen Tönen, sprachen aber offen die finanzi­ellen, wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten an, die die Einheit mit sich bringen wird. Richard von Weizsäcker, dessen Redekunst in der letzten Zeit etwas gelitten hatte, wurde seinem guten Ruf wieder gerecht.

Bemerkenswert, weil bisher nicht deutlich genug herausgearbeitet, war der Dank an die Beamten in den Ministerien. In der Tat: Gerade ihre Arbeit dokumentiert das in Jahrzehnten gewachsene demokratische Verständnis. Ihre Hervorhebung schmälert nicht die Verdienste der Politiker. Aber das Fundament eines freiheitlichen Staates ist das Beamtentum. Politiker kommen und gehen.

Alle aufzuzählen, die gewichtige Worte gesprochen haben, würde den Rahmen sprengen. Alle aber zeichnete eine Bescheidenheit aus, die nicht duckmäuserisch, sondern im Bewußtsein kommender Verantwortung und Verpflichtung daherkam.

Dem angenehmen Ton entsprach der Ablauf der Feier. Das hatte Art, um mit Thomas Mann zu sprechen. In einer Mischung aus Würde und Freude präsentierte sich der neue Staat in sei­ner Geburtsstunde. Geradezu herzerfrischend das turbulente Treiben in den Städten. Die „Salzburger Nachrichten“ schreiben, es sei wohltuend gewesen, die nächtlichen Feiern und den Staatsakt zu erleben, denn es seien keine Feiern der starken Sprüche, sondern Veranstaltungen reifer und gereifter Menschen gewe­sen, voller Verständnis füreinander und getra­gen von positiven Absichten.

Das beruhigte und beruhigende Urteil der Weltöffentlichkeit ist auch dem Bemühen zu verdanken, trotz aller Versäumnisse von 1945 bis heute die Vergangenheit offenzulegen. Ver­säumnisse wird es wieder geben. Man werde nichts verdrängen, sagten alle Redner, vor allem im Blick auf den ehemaligen Staatssicherheitsdienst. Man sollte solche Äußerungen nicht aufdie Goldwaage legen. Selbstverständlich wird es Verdrängungen geben. In der gro­ßen Linie ist allerdings tatsächlich nichts verschwiegen worden.

Es gibt viel am Fernsehen auszusetzen. Die optische und akustische Berichterstattung vermittelte aber in diesen Stunden des Beginns mehr als manch kluger Artikel. Die musikalische Begleitung, das Aufziehen der Fahne, das anschließende Feuerwerk erhellten einen pragmatisch-würdigen Stil, der unserem modernen, auf die Wirtschaft ausgerichteten Land ange­messen ist.

In der Vergangenheit ist von manchen bedau­ert worden, daß Deutschland nicht jenes farbenprächtige Schauspiel bieten könne, wie es etwa in England oder Frankreich bei nationalen Ereignissen abrollt.

Jetzt zeigt sich, daß wir eigene Formen das Feierns und der Freude entwickelt haben, die keineswegs nachrangig sind. Das ist lange Zeit für unmöglich gehalten worden. Zu sehr war das Deutschlandbild von Überheblichkeit und Auftrumpfen geprägt. Das hat sich geändert. So hat sich in dieser Nacht ein Gefühl verfestigt, an das viele nicht mehr glauben wollten: Eine Zuneigung zum Gemeinwesen, die sich nüchtern auf das Wohlergehen bezieht, aber eben mehr ist als das bloß Faktische.


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Hillary Clinton war ja nicht die erste

Wenn Nancy Politik macht

1986 / Sie ist stets wie aus dem Ei gepellt; auf ihrem Gesicht liegt ein immerwährendes öf­fentliches Lächeln; und ihr Blick, wenn sie ihn - halb flirtend, halb hilfesuchend - anschaut, ist weltberühmt geworden. Doch Nancy Reagan, die zerbrechlich erscheinende Frau an der Seite des amerikanischen Präsidenten, ist alles andere als ein hilfloses Hühnchen. Im Weißen Haus hat die ehemalige Schauspielerin - Schwamm drüber - die Rolle ihres Lebens gefunden. Sie nimmt Anteil an allem, was die Darstellung der amerikanischen Politik durch ihren Ronnie, was sein Ansehen und was sein persönliches Wohlergehen betrifft.

Bei ihren Aktivitäten bewegt sie sich freilich auf dünnem Eis, da der Job der First Lady offiziell gar nicht existiert. Er muß von Fall zu Fall neu definiert und ausgefüllt werden. In welchem Maß das gelingt, zeigt nur der Erfolg - ein Grundsatz, der ganz allgemein das ameri­kanische Leben und die amerikanische Politik bestimmt.

Der Start der Nancy Reagan auf dem spie­gelnden Parkett Washingtons war - man hat das längst vergessen - keineswegs glänzend. Nach der hausbackenen Rosalynn Carter wirkten ihre teuren Modellkleider, ihre reichen kalifornischen Freundinnen und ihre Partys

eher irritierend. Aber Nancy fing sich schnell und sie fing damit an, Politik zu machen - Personalpolitik vor allem. An Alexander Haigs Sturz war sie maßgeblich beteiligt, ebenso an der Entfernung des ersten Sicherheitsberaters Richard Allen. Immer wenn sie glaubte, Ronald werde schlecht beraten, sorgte sie für 1986 Remedur. Die Iran-Affäre scheint allerdings auch für die eiserne Lady eine Nummer zu groß zu sein. „Wenn wir North Oliver nur zum Reden brin­gen könnten“, sagte sie verzweifelt vor Journa­listen und enthüllte damit wohl eher ungewollt, wie sehr die Entwicklung der Iran-Contra­Affäre dem Präsidenten und damit auch ihr offenbar aus der Hand geglitten ist.





Dicke und Drachenflieger zur Kasse - eine Idee, die bis heute immer wieder auftaucht

Seltsame Idee eines Arztes

1991 / Es ist nicht das erste Mal, daß der Präsident der Bundesärztekammer für Aufregung sorgt. Nun schlägt er vor, Übergewichtige sollten höhere Krankenkassenbeiträge zahlen. Nicht nur sie: auch zusätzliche Abgaben für Risikogruppen wie Raucher, Trinker, Motorradfahrer oder Drachenflieger seien vorstellbar. Sicher, viele Menschen aasen mit ihrer Gesundheit. Der Gesellschaft entstehen dadurch Milliardenkosten. Aber wer will die Kriterien bestimmen? Auch der Urlauber, der sich in die Sonne knallt oder der rasende Autofahrer müßte in die Risikogruppen eingereiht werden. Sogar jene, die glauben, besonders gesund­heitsbewußt zu sein, müßten sich schärfstens kontrollieren lassen. Denn es gibt ein übertrie­benes Jogging, ein ungesundes Kraftsporttraining oder gewaltsame Abmagerungskuren, die manchmal gefährlicher sind als Übergewicht.

Aber Karsten Vilmar liegt im Trend. Es ist allmählich Mode, mit Versicherungen und Versicherungsprämien das Leben der Menschen zu gängeln. Diese Politik, die Leute wie kleine Kinder zu belohnen, wenn sie sich brav verhalten, ist selten ganz uneigennützig.

Gerade ein Arzt sollte da nicht mitmachen. Seine Aufgabe ist es, jedem Patienten individuell zu helfen, anstatt gefährdete Personen zur Kasse zu bitten. Mit Bestrafung ist Volksgesundheit jedenfalls nicht zu erreichen. Schon der Gedanke, alles über den Geldbeutel steuern zu wollen ist unerträglich.

Helmut Kohl hat Übergewicht. Auch Franz Josef Strauß war zu dick. Der frühere CSU-Chef hat zudem gern ins Glas geschaut und sich manche Nacht um die Ohren gehauen. Ein kränkelnder Mann, der die Krankenkasse strapaziert hätte, war er nicht. Auch Kohl strotzt vor Gesundheit.

Die Vorschläge Vilmars sind also unausge­goren. Seltsam, daß ein führender Ärzte­funktionär auf solche Ideen verfällt.





Wie man die Uhr überlistet 

Spiel mit der Zeit

1986 / „Die Zeit, sie ist ein sonderbares Ding.“ So singt die Marschallin im Rosenkavalier. Den Zuhörern wird es an dieser Stelle eng ums Herz, mancher verdrückt still eine Träne. Die Zeit einzufangen, sie gar stillstehen zu lassen, das ist ein alter Traum der Menschen: Verweile doch, du bist so schön ...

Aus dem Traum ist längst Wirklichkeit ge­worden. Bei einer internationalen Konferenz in Stockholm zum Beispiel haben die Ver­treter von 35 Staaten einfach die Uhr angehal­ten, als sie mit ihrem Abschlußkommunique in Zeitnot gerieten. Der Augenblick, der nach Kommando verweilte, dauerte in Wirklichkeit über einen Tag lang.

Auch zu Beginn der Sommerzeit schlagen wir der Zeit ein Schnippchen. Um zwei Uhr heißt es offiziell: Ab sofort ist es wieder drei Uhr. Die Nacht, die nach Gustaf Grundgens bekanntlich nicht nur zum Schlafen da ist - sie wird für diesen Tag um eine Stunde kürzer.

Seit sechs Jahren leben die Bundesrepublikaner mit der Sommerzeit. Anfangs war das Geschrei groß. Die Bauern fürchteten, die deutsche Kuh gebe weniger Milch, wenn sie nicht zur üblichen Zeit gemolken werde. Die Gewerkschafter orakelten, den Werktätigen drohe erhöhte Unfallgefahr, wenn sie morgens eine Stunde früher auf die Straße gingen. Kino­besitzer bangten ums Geschäft, Eltern um den Biorhythmus ihrer Kinder.

Doch die Zeit heilt Wunden. Kühe und Menschen gewöhnten sich an den Trick. Die mei­sten Bürger entdeckten sogar, daß sie mit mehr Tageslicht auch ein bißchen mehr aus ihrem Leben machen können. Dazu gehören auch die Journalisten, die erst am Abend aus ihren Büros kommen und dann doch noch den Weg ins Biergärtchen finden.

Daß die Sommerzeit auch ein wenig Energie sparen hilft, hat sich allerdings nicht erfüllt. Es gibt sogar Berechnungen, nach denen die Umstellung gesamtrechnerisch teurer ist als der Spareffekt beim Strom. Aber was zählt’s?

Das Spiel mit der Zeit ist ein Fortschritt, der träu­men läßt.





Über Sprachblüten der besonderen Art

Weiblich, männlich

1984 / Über die Feminisierung der Sprache wird seit Jahren geredet - nicht immer auf hohem Niveau. Eine Zeitlang machte der sprachliche Unsinn der man/frau-Konstruktion die Runde. Als es nichts fruchtete, verfielen die Frauensprachlerinnen auf die „Innen“-Lösung. Künf­tig sollte es nur noch Frauensprachlerinnen geben.

Nun ist richtig, daß Frauen in der Alltagssprache nicht gerade begünstigt sind. Richtig ist auch, daß die Sprache unsere Gesellschaft entscheidend prägt. Aber ist es wirklich so erstrebenswert, künftig von Obfrauen, Seefrauen und Bauherrinnen zu sprechen? Manch­mal hat man den Eindruck, die Auseinandersetzung über die äußere Form werde wichtiger genommen als das eigentliche Problem.

Es geht doch darum, daß Frauen gleichberechtigte Partner im Leben sind, daß sie von Behörden oder im Berufsleben nicht schlechter gestellt werden als ihre männlichen Kollegen. Hier gäbe es noch viel zu tun, vor allem bei den Leichtlohngruppen.

Die deutsche Sprache ist wie jede andere Sprache von Seltsamkeiten geprägt. Warum heißt es „das“ Mädchen, „das“ Fräulein, warum aber heißt es „die“ Liebe und „die“ Sonne. Zwei der schönsten Dinge sind der Weiblich­keit vorbehalten. Zu Recht. Es würde aber keinem Mann einfallen, nach Reformen zu rufen.

Geradezu grotesk war der Vorschlag der Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch, die ri­goros der Männersprache den Garaus machen will. Frau Pusch kämpft - anders als manche ihrer Mitstreiterinnen - gegen den „diskriminierenden Suffix ,-in’.“ Die Linguist, der Lin­guist und - sofern beide gemeint sind - das Linguist. Gleichermaßen scheußlich ist der Vorschlag im Plural von den „Mörders“ zu sprechen.

Das sind Sprachvergewaltigungen, die lä­cherlich sind. Die niedersächsische Regierung hat sich jetzt für eine vertretbare Lösung ent­schieden. Wo möglich, sollen weibliche und männliche Form nebeneinander stehen. Also: die Richterinnen und Richter, die Ärztinnen und Ärzte. Aber ist das nicht schon längst üblich? Wer würde denn sagen, er gehe zum Zahnarzt, wenn es eine Frau ist?





Der Drang zur Natur - und dabei war das ,Mountain-Bike“
als Massenverkehrsmittel noch gar nicht erfunden ...

Deutsche Waldeslust

1982 / Die Moden der Gesellschaft jagen sich heu­te fast so schnell wie die Moden der Beklei­dungsindustrie. War noch vor Jahren das Häuschen im Grünen schick und erstrebenswert, drängen heute die Menschen auf der Suche nach den Resten von Urbanität wieder in die verwinkelten Gassen der Altstädte; zog es alte Menschen noch vor Jahren in Seniorenheime an ozonduftenden Waldrändern, bleiben sie heute lieber in ihren nachbarschaftsfreund­lichen Altbauwohnungen; setzten fortschrittliche Eltern noch vor Jahren auf die antiautori­täre Erziehung, langen sie heute schon wieder mal hin, wenn die Kleinen nicht spuren. Neue­stes Beispiel in der Reihe von Trendwenden, die sich beliebig fortsetzen ließe: Unser Ver­hältnis zum Wald, zum deutschen.

1975 wurden alle Wälder gesetzlich zur Er­holung geöffnet und damit wurde bundesweit nachvollzogen, was die Bayerische Verfas­sung im Artikel 141,3 längst deklariert hatte. Dort heißt es so schön: „Der Genuß der Natur­schönheiten und die Erholung in der freien Natur ... ist jedermann gestattet.“ Stemmten sich „Erzkapitalisten“ wie der Wald-Baron Finck dagegen, ging ein Aufschrei durchs Land, denn alle sollten teilhaben an den Ge­nüssen der unberührten Natur. Wie festge­schrieben, so getan: Bis zur entlegensten Alm­hütte wurden Trampelpfade vorangetrieben, die Berge mit Seilbahnen durchzogen, Trimm- dich-Strecken in die verschwiegensten Forste gepflastert, Ski-Loipen angelegt, Grillplätze zementiert. Totale Natur für alle!

Das Ergebnis der sicher guten Absichten ist eher deprimierend. Der Wald, so nicht vom sauren Regen bereits versaut, droht zum gro­ßen  Sauhafen zu werden. Und wer heute in heiler Natur wandern will, geht besser nach Norwegen oder Irland. Was die Natur-Prophe­ten von einst in ihrer Begeisterung nämlich nicht bedachten, ist das verkümmerte Verhält­nis vieler Menschen zur Natur. Man lockte sie nach draußen, zum Austoben statt zum stillen Genießen. Jetzt kommt das große Umdenken. Mit bloßen Absperrungen ist den Natur­tramplern allerdings nicht beizukommen. Deutsche Waldeslust muß erlernt werden.





Drei Jahre vor dem Fall - Bedenkliches über die Gemeinsamkeit der Deutschen

Im Schatten der Mauer

Die Mauer ist auch nach 25 Jahren, so scheußlich wie am ersten Tag. Weder Graffiti noch Laubenpiper-Idylle, weder Gewöhnung noch psychologisierende Bemühungen können darüber hinwegtäuschen. Das steinerne Symbol des Ost-West-Konflikts, die Zementierung des nationalsozialistischen Erbes, sie bleiben eine Schande, eine Mahnung nach wie vor.

Doch das Monstrum, das in seinen ersten Jahren und im ersten Schock lediglich als Trenn­linie empfunden wurde, hat im Laufe der Zeit eine Tiefenwirkung entwickelt, die der Absicht der Erbauer konträr zuwiderläuft. Die Mauer Neue Sicht ist permanent peinliche Anklage gegen das Regime in der DDR sowie gegen dessen Herren in Moskau. Und sie ist, so absurd das klingen mag, nicht nur ein Symbol der Spaltung, sondern auch der Verbindung. Denn hätten die Deutschen aufgehört, an eine gemeinsame Zukunft zu glauben, hätte sich ihre Identität gänzlich aufgelöst in einen West- und Ostteil - dann wäre die Mauer längst überflüssig geworden. Ihre Existenz, so traurig sie ist, ist gerade der Beweis dafür, daß die deutsche Frage offen bleibt.

Die Gründe für den Bau der Mauer sind oft genug dargelegt worden, auch die erst auf den zweiten Blick erkennbaren Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen der Bundesrepu­blik und der DDR. Daher nur soviel zur Erinnerung. Ostberlin mußte, wollte es nicht eines Tages als Befehlszentrale ohne Bevölkerung dastehen, Maßnahmen gegen die Massen­flucht ergreifen. Todesstreifen, Stacheldraht, Minenfelder und Mauer waren zwar die ab­stoßendsten, aber sie waren die einzig wirksa­men. Die DDR stabilisierte sich - innen- und außenpolitisch.

Auch in der Bundesrepublik hatte der Mau­erbau politische Konsequenzen. In einem quä­lenden Prozeß wurde in der Praxis Abschied genommen vom Alleinvertretungsanspruch, das normative Element - also der Gegensatz der Ordnungssysteme und Wertvorstellungen - ver­lor gegenüber dem pragmatischen Element - der Kooperation über Systemgrenzen hinweg - an Bedeutung. Diese neue Sicht der Dinge war nicht allein Ergebnis von Überlegungen hier­zulande, sie wurde ganz entscheidend geprägt von der damals auf Entspannung zustrebenden großen Ost-West-Politik. So gesehen markierte der Bau der Mauer das Ende des Kalten Krieges. Alle im Bundestag vertretenen Parteien stehen heute zu dieser Entwicklung, die einen ausdrücklich, die anderen unter dem dürren Motto „pacta sunt servande“. Gemeinsame Sprachregelung aber ist: Ein Zurück gibt es nicht. Wer anderes annahm, sah sich späte­stens seit dem Amtsantritt der konservativ- liberalen Regierung eines Besseren belehrt.

Viel ist in diesen Tagen wieder davon die Rede gewesen, wie die Zukunft der Mauer aussehen könnte. Daß sie durchlässiger und irgend eines fernen Tages fallen werde - man hört es seit dem 13. August 1961. Man wird es noch lange hören. Das liegt nicht nur an der Sowjetunion und an den Machthabern in der DDR, das liegt auch an unseren westlichen Partnern. Ein 80-Millionen-Volk in der Mitte Europas mit dominierender wirtschaftlicher Macht wäre für sie ein Alptraum. Schon de Gaulle sagte süffisant, er liebe Deutschland sehr, daher habe er gern zwei davon. In die gleiche Richtung zielte die Äußerung des italienischen Christdemokraten Andreotti über die Gefahr eines neuen Pangermanismus. Andere schweigen diplomatisch, denken aber ähnlich.

Auch Adenauer dachte so, allerdings aus anderen Motiven. Er fürchtete die preußische Komponente in einem vereinigten Deutschland und - durch Erfahrungen belehrt - die Unbere­chenbarkeit eines deutschen Nationalstaates. Daher war es nur konsequent, daß er den Mauerbau innerlich gelassen hinnahm.

Doch jenseits allen politischen Kalküls, aller historischen Betrachtungsweisen Einzelner und trotz der Mauer gibt es so etwas wie eine deutsche Nation. Denn eine Geschichte der Bundesrepublik ist ohne die Geschichte der DDR undenkbar. Ebenso ist die Staats­wirklichkeit der DDR ohne die Existenz des „kapitalistischen und imperialistischen“ Bru­ders überhaupt nicht zu beschreiben. Das be­deutet: Die deutsche Frage wird solange exi­stieren, wie die Deutschen selbst meinen, daß sie existieren solle. Das erfordert Stehvermö­gen, und es erfordert die Bereitschaft, gerade als Bürger der Bundesrepublik die gesamtdeut­schen Zusammenhänge im Auge zu behalten: Die kulturellen und historischen Verflechtun­gen, die gemeinsame Last des verlorenen Krie­ges und die nüchterne Einschätzung des Mög­lichen.





Eine erste Zwischenbilanz - Ernüchterndes nach der Euphorie

Ein Jahr danach

weDie Deutschen erleben die aufregendste Zeit ihrer neueren Geschichte. Vor einem Jahr brach für alle überraschend das SED-Regime wie ein Kartenhaus zusammen. Am 9. November schließlich öffnete sich die Mauer. Von diesem Tag an war kein Halten mehr. Erstmals seit 40 Jahren dürfen alle Ostdeutschen ungehindert in den Westen fahren. Auch für die Westdeut­schen änderte sich das Leben. Historische und kulturelle Verbindungen beleben sich neu - Weimar und die Wartburg sind wieder leicht erreichbare Orte.

Politisch ging es ebenfalls Schlag auf Schlag: Währungsunion, Vereinigungsverträge, Land­tagswahlen, Etablierung der fünf neuen Bundesländer. Die Zusammenschlüsse und Abre­den zwischen Organisationen in Ost und West sind kaum noch zu zählen. Endlich, so möchte man meinen, findet Deutschland wieder seine Identität. Doch die Freude über den einmaligen Vorgang der Vereinigung, die durch die allge­meine Entspannung und den Untergang des Kommunismus noch verstärkt wird, bleibt selt­sam verhalten.

Das mag man bedauern. Aber der psycholo­gisch labile Zustand ist zu verstehen. In den neuen Bundesländern ist Zukunftsangst und Ungeduld spürbar. Will sich denn das Wirt­schaftswunder nicht endlich einstellen, lautet die weitverbreitete Frage. Alle schauen ge­bannt auf die westdeutschen Unternehmen, die kommen, verhandeln und prüfen sollen. Die Bereitschaft, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu investieren, ist aber vorerst gering. Auch dies ist verständlich. Das Risiko ist trotz Vereinigungsverträgen noch zu groß. Und nicht ohne Grund wird den Ostdeutschen vorgeworfen, sie ließen sich hängen, verharrten in einer Erwartungshaltung, anstatt selbst tätig zu werden. Schließlich, so ein weitverbreitetes Argument, habe man nach dem Krieg doch auch die Ärmel hochgekrempelt. Warum sei heute nicht möglich, was damals unter viel schwereren Bedingungen geschaffen wurde?

Bei diesem sehr bemühten Vergleich wird vergessen, daß auch Erhards Wirtschaftswun­der seine Zeit brauchte. Der Aufstieg war mühsam. Anfang 1950 gab es fast zwei Millio­nen Arbeitslose. Viele lebten in kümmerlichen Verhältnissen. Schon vergessen? Zudem ist man im Westen schnell mit der Unterstellung zur Hand, den nun freien Brüdern und Schwe­stern sei nicht über den Weg zu trauen. Frei­lich, die PDS-Affäre und andere Durch­stechereien haben berechtigtes Mißtrauen ge­weckt. Ebenso hat der monatelange Versuch der Regierung de Maizere, angebliche Errun­genschaften der DDR in den Gesamtstaat zu überführen, den Eindruck verstärkt, die Men­schen wollten alles: Die Vorteile der Markt­wirtschaft und die Bequemlichkeiten des sozia­listischen Versorgungsstaates.

Die beiderseitigen Verständigungsschwie­rigkeiten beschränken sich nicht auf das Sozia­le und das Wirtschaftliche. Für viele Westdeut­sche ist das Land zwischen Rostock und Dres­den ja weitgehend unbekannt. Wie die Men­schen dort wirklich gelebt haben, welche Wün­sche und Sehnsüchte sie hatten, ist nur schwer zu vermitteln. Das gilt umgekehrt genauso, wenn auch in geringerem Maß. Das West- Fernsehen hat zwar Schneisen geschlagen, zeig­te aber letztlich nur Abbilder der Realität.

Die Sorgen sind groß. Rückblickend auf das vergangene Jahr, ist die Bilanz dennoch erfreu­lich. Manche Probleme, die Aufgeregtheiten ausgelöst haben, erwiesen sich als aufge­bauscht; andere erledigten sich wie von selbst.

Wer hatte dieses Tempo erwartet? Zumin­dest die Rahmenbedingungen sind gegeben, wirtschaftlich und politisch. Die ökonomischen Daten verbessern sich, wenn auch langsam. Der Besuch Gorbatschows ist ein weiterer Beleg für die außergewöhnliche Entwicklung. Ausgerechnet am Jahrestag des Mauerfalls dokumentiert Moskau, wie selbstverständlich es bereits das neue Deutschland betrachtet.





Die Ökologie muß ökonomisch attraktiv werden

Zerfaserter Umweltschutz

1986 / Vor Monaten starben vergiftete Fische in Saar und Mosel, dann floß Gift in die Lippe, wenig später in die Volme, jetzt zieht sich eine todbringende Welle durch den Rhein. Werra und Weser sind seit Jahren versalzen, andere Gewässer in der Bundesrepublik längst ruppige Kloaken. Doch das ist nur ein Teil der Umweltzerstörung. Zersiedlung und Flächenfraß, Giftmüll und Industrieabgase, Kunstdünger und Unkrautkiller zerstören zunehmend die Erde, auf der wir und von der wir leben.

Der Tatbestand ist hinlänglich bekannt. Daher hat cs wenig Sinn, nach jeder neuen Katastrophe in ein Lamento zu verfallen und sich über jene lustig zu machen, die das Unglück wieder einmal falsch eingeschätzt haben. Denn kein Fisch weniger wäre gestorben, hätten Sandoz und der baden-württembergische Umweltminister gleich nach dem Brand in dem Basler Chemieunternehmen Alarm geschlagen, anstatt so zu tun, als habe man alles im Griff. Derartiges Verhalten mag psychologisch und politisch töricht sein, an den scheußlichen Vorgängen ändert es nichts.

Die Ärgernisse im Umweltschutz sind andere. Besonders fatal ist seine parteipolitische und ideologische Polarisierung. Umweltschutz wird nicht nüchtern als Gemeinschaftsaufgabe verstanden und betrieben, sondern zwischen Emotionen und einem in dieser Sache dümmlichen Rechts-Links-Schema zerrieben. Zwar bedienen sich heute alle der Phrase, Ökologie und Ökonomie müßten kein Gegensatz sein, doch die Wirklichkeit sieht anders aus.

Nach deutscher Art ist der Umweltschutz zu einer Frage der Weltanschauung verkommen. Anstatt darüber nachzudenken, was machbar und bezahlbar, was vorrangig und nachrangig ist, höhnen die einen über die Müslifresser und diese über die Kapitalistenknechte, die angeblich vor den Interessen der Wirtschaft in die Knie gehen. Die Folge: Der Umweltschutz ist zum Tummelfeld für Wichtigtuer aller Couleur geworden. Aufgeregtheit, Gereiztheit und Aktionismus beherrschen die Szene.

In seltsamem Gegensatz zu diesen Graben¬kämpfen steht das Bestreben aller, umweltschützerisch den Musterknaben zu spielen. Eigene Umweltministerien wurden geschaffen, Hunderte von Gesetzen erlassen. Auch dies eine deutsche Untugend: Gesellschaftliche Probleme durch Verbote und Gebote lösen zu wollen. Denn sowenig Antidemokraten per Gesetz in Demokraten verwandelt werden können, sowenig dein Terrorismus mit Vorschriften beizukommen ist, sowenig wird es gelingen, aus dem ökonomisch Handelnden durch Zwang einen gegenüber der Natur verantwortungsbewußten Menschen zu machen. Hier hilft nur das Zusammenführen beider Interessen.

Das heißt: Der Umweltschutz kommt nur voran, wenn man ihn über den Markt gestaltet. Er muß ökonomisch attraktiv werden wie die Arbeit, das Kapital, wie Grund und Boden. Arbeit wird bezahlt, Kapital verzinst sich. Boden bringt Pacht oder vermittelt zumindest Sicherheit. Warum soll sich der Um¬weltschutz nicht lohnen?

Natürlich können auch guter Wille und die Liebe zur Natur, wie sie viele Bundesbürger in den letzten Jahren entdeckt haben, Wirkung zeigen, aber Mehrwegflaschen und umweltfreundliche Joghurtbecher sind nicht die entscheidenden Reaktionen auf das Umweltproblem. Umgekehrt muß man es angehen: Denn aus ökonomischen Einsichten sind Verhaltensänderungen allemal am wirkungsvollsten zu erreichen. Kurzum: Umweltschutz muß zu einem lohnenden Geschäft für die Wirtschaft gemacht werden. wobei unter Wirtschaft hier die Produzenten und die Konsumenten zu verstehen sind.

Leider läuft der Kurs in der Grundtendenz hierzulande in die andere Richtung. Die Wirtschaft, von der wir ebenso leben wie von der Umwelt, wirdnicht in das Bemühen um saubere Luft, reines Wasser und weniger belastete Böden in einer für sie attraktiven Weise eingebunden, sondern mit Gesetzen und anderen Überwachungsmechanismen überzogen. Je mehr Gesetze aber, das lehrt die Erfahrung, desto größer auch die Möglichkeit, sie zu umgehen. Unbefriedigend ist ja nicht die Wirtschaft in toto, sondern nur ein unökologisches Wirtschaften, das unökonomisch ist. Dies allen Beteiligten stärker deutlich zu machen, ist die wichtigste Aufgabe des Umweltschutzes - wichtiger als alle Hochglanzbroschüren, Bundestagsanhörungen und verwirrenden Bestimmungen.





Zwei Jahre nach der Vereinigung

Träge Versöhnung

1992 / Jetzt wurde also die Quadriga wieder auf das Brandenburger Tor gesetzt. Renovierungsarbeiten waren notwendig geworden, weil Jugendliche am Tag des Mauerfalls in ihrer überschäumenden Freude das Denkmal schwer ramponiert hatten.

Als die Pferde, der Wagen und seine Lenkerin an Kränen nach oben gezogen wurden, waren 20.000 Menschen auf den Beinen. Zeitungen und Fernsehen berichteten ausführlich. Die Anteilnahme zeigt erneut, wie sehr die Ereignisse des historischen Wandels noch immer die Menschen bewegen.

Die große Begeisterung ist zwar verklungen, aber niemand wird von den Feierstunden der Nation gänzlich unberührt bleiben. Das trifft auch für die Überführung Friedrichs 11, in sein geliebtes Sanssouci zu, Man kann durchaus geteilter Meinung über den Ablauf sein, aber der Vorgang als solcher muß jeden ansprechen, der für Geschichte einen Sinn hat.

Bei allen Schwierigkeiten mit dem Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands gäbe es also - die beiden Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt -mehr Anlaß zur Freude als zur Resignation. Leider ist es anders.

Hier herrscht das diffuse Gefühl, die Bürger der neuen Bundesländer könnten uns die Butter vom Brot nehmen. Umgekehrt tragen auch die neuen Bundesbürger zu dem wachsenden Mißtrauen bei. 40 Jahre sozialistisches Zwangssystem graben sieh tief ein. Hinzu kommt die Neigung, den Rückstand im Lebensstandard mit Arroganz und Weinerlichkeit auszugleichen.

Das Verhältnis zwischen West- und Mitteldeutschen leidet unter ähnlichen Schwierigkeiten wie unsere Beziehung zu den östlichen Nachbarn. Deutsche und Polen, Deutsche und Tschechoslowaken. Deutsche und Ungarn, Deutsche und Rumänen haben zwar offiziell die Aussöhnung ihrer Völker eingeleitet, aber die Wirklichkeit entspricht nicht den großen Worten. Man redet allzu leichtfertig von den „neuen Kapiteln“, die in den Beziehungen aufgeschlagen worden seien. Ernst zu nehmen ist das nicht. Denn die Beziehungen sind eher schlecht als gut. Ein Vaclav Havel, ein Richard an Weizsäcker, ein Hans-Dietrich Genscher, ein Josef Kubizcewski sind eben nur die Pioniere einer Verständigungspolitik.

Am 15. März 1990 lud der tschechoslowakische Präsident seinen deutschen Kollegen nach Prag ein. Das war genau 51 Jahre nach dem Überfall Hitlers auf das kleine Land. Solche Gesten bleiben kaum im Gedächtnis haften. Statt dessen geht es um Rechtsansprüche; Sudetendeutsche wollen Entschädigung für ihren alten Besitz, Tschechoslowaken versuchen, aus der neuen Ost-West-Konstellation hier und da Vorteile zuschlagen. Ähnlich ist es mit Ungarn und Polen.

Bei aller verständlichen Trauer über den Verlust der Heimat, bei allem Schmerz über die Schrecken der Vertreibung, könnten gerade wir das Versöhnungswerk vorantreiben.

Es geht uns wirtschaftlich gut, die soziale Infrastruktur ist einmalig in der Welt. Vor allem genießen wir seit 1945 alle Möglichkeiten, uns historisch umfassend zu informieren. Die Völker des Ostens dagegen sind systematisch belogen worden, die Verbindung zur Welt war auf ein Minimum reduziert. Ist es da nicht verständlich, daß manche Vorurteile noch immer nicht überwunden sind, auch weil falsche Informationen die Menschen belasten?

Auch kann nicht vergessen werden, daß Deutschland zuerst schreckliches Leid über seine Nachbarn gebracht hat. Es stünde ihm also gut an, nicht immer nur auf Rechtsstand¬punkten herumzureiten, wobei das Menschliche meist zu kurz kommt.

Es gibt hoffnungsvolle Ansätze. So soll ein deutsch-polnisches Jugendwerk geschaffen werden; man bemüht sich darum, die Marienburg gemeinsam zu restaurieren. Auch im Verhältnis zur Tschechoslowakei keimt manches Pflänzchen. Aber von der Begeisterung, die einst bei der deutsch-französischen Aussöhnung auch die Bevölkerung erfaßte, ist wenig zu spüren. Dabei sind Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn stark von habsburgischer und deutscher Lebensweise geprägt. Wir haben ihnen viel zu verdanken.

Das Geflecht aus vager Zuneigung und starker Zurückhaltung ist kaum zu entwirren. Alle haben noch viel zu lernen. Sonst bleibt das große Europa eine Vision auf dem Papier.





Die Demokratie und der Gruppen-Egoismus

Bürgerinitiative - das Zauberwort

1975 / Bürgerinitiative! Das klingt so wohltuend nach Demokratie. Und da die Deutschen der Mitwelt zeigen wollen, daß sie etwas ihnen lange Zeit so Fremdes allemal besser und gründlicher zu machen verstehen als die anderen, gibt es sie gegen und für alles und jedes. Für Spielplätze, gegen Spielplätze, für eine, gegen „Die da oben“ eine Straße, für Hunde, gegen Hunde, vor allem aber gegen Kernkraftwerke. Demokratisierung nennt man das. Deutlicher gesprochen klingt es so: Bürger erwache! Hau den Behörden auf die Finger, reiß die Beamten aus ihrem Trott, zeig, wer der wahre Herr im Hause ist!

Und wer immer das Zauberwort Bürgerinitiative für seine Aktivitäten in Anspruch nimmt, kann des Wohlwollens der öffentlichen Meinung sicher sein, weil zunächst einmal unterstellt wird, das spezielle Interesse der Bürgerinitiative decke sich mit dem allgemeinen Wohl. Ganz gleich, um was es geht, Hauptsache, man hat’s „denen da oben“ wieder mal gegeben. Selbst jene, die schamrot zugehen müssen, noch nie einer Bürgerinitiative angehört zu haben, können sich einer gewissen Schadenfreude nicht enthalten. Und sei’s der Münchner, der sich über die Verhinderung eines Straßenbaus in Hamburg die Hände reibt. Unsere Zeitung, die selbst schon manche Bürgerinitiative mit Erfolg unterstützt hat, würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wollte sie jetzt gegen grundsätzliche Berechtigung und Nutzen von Bürgerinitiativen schreiben. Darüber besteht kein Zweifel.

Aber wie sieht die andere Seite aus? Es ist einfach falsch, Bürgerinitiativen so hinzustellen, als ob sich in ihnen Demokratie erst erfülle. Das widerspricht schlicht und einfach unserem repräsentativen System, in dem sich Demokratie (bei allen Nachteilen) immer noch am besten verwirklichen läßt. Repräsentatives System heißt, daß diejenigen, die zur Besorgung der Geschäfte der Allgemeinheit auf Zeit gewählt sind, für diese Zeit auch Handlungsfreiheit haben müssen. Daher schießt es über das Ziel hinaus, wenn Bürgerinitiativen Entscheidungsbefugnisse anstelle eines Stadtrates beanspruchen. Das Ergebnis wäre die Einführung eines räteähnlichen Systems.

Außerdem müßten solchen entscheidungsbefugten Bürgerinitiativen über kurz oder lang auch finanzielle Befugnisse eingeräumt werden, was chaotische Zustände zur Folge haben müßte. Schon heute bedeutet die Fixigkeit, mit der Bürgerinitiativen aus dem Boden schießen, eine schwere Belastung für die Administration. Selbst relativ simple Vorhaben weiten sich zu „Affären“ aus. Ein Gutachten jagt das andere, Experten marschieren auf, Unterschriften werden gesammelt, Demonstranten formieren sich zu Protestmärschen und Sit-ins. Am Ende steht nicht selten die Frage der Unregierbarkeit. Und nicht selten eine leere Kasse. Kindergärten können nicht gebaut werden, für Spielplätze fehlt das Geld, das für die teuren Gutachten ausgegeben werden mußte. Die Folge? Neue Bürgerinitiativen fordern den Bau eines Kindergartens, eines Spielplatzes ...

Jede Verwaltung muß sich daher davor hüten, ihre Entscheidungen danach zu fällen, welche Gruppe den härtesten Druck ausübt oder am lautesten schreit. Interessenverbände praktizieren das vom Schreibtisch aus oder „artikulieren“ sich bei Stehempfängen. Bürgerinitiativen stellen sich vor das Rathaus oder blockieren die Straßenbahn. Aber ebenso wenig wie Demokratie ein Gefälligkeitskartell für die Mächtigen sein darf, darf sie zur Phonokratie werden, bei der den Lautesten nachgegeben wird.

Wer soll daher eigentlich entscheiden, welche Bürgerinitiative gut, weil gegen fehlerhaftes Verhalten gerichtet, welche kleinlich und eigennützig ist? Von den eher ängstlichen Politikern (die ja gerne wiedergewählt werden möchten) ist das nicht zu verlangen, und sonst gibt es niemanden, der Bürgerinitiativen in Interessen von Minderheiten anhörenswerte und zu übergehende sortieren könnte. Wie steht es zum Beispiel mit jenen, die sich so vehement gegen den Bau von Kernkraftwerken einsetzen? Bewahren sie uns vor dem sicheren Atomtod, oder wollen sie lediglich, daß das Werk 500 Kilometer weiter weg errichtet wird? Jedenfalls kann gar keine Rede davon sein, daß die Demonstranten von Brokdorf und Wyhl für die Mehrheit der Bevölkerung sprechen, die nach einer Umfrage in überwiegender Mehrheit der Ansicht ist, Kernkraftwerke seien für die Energieversorgung unerläßlich. Da können noch so viele Pastoren mit einem Feldgottesdienst die Demonstration zieren, Ärzte, Rechtsanwälte und Architekten bei anderer Gelegenheit in vorderster Reihe marschieren, der Eindruck bleibt: Die meisten Bürgerinitiativen vertreten Partikularinteressen kleiner Minderheiten, meist auf Kosten des von ihnen so falsch verstandenen allgemeinen Wohls.


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„Das Land hat sich verändert“ - die Menschen auch?

Nach dem Fest

1989 / Wann hat Deutschland nach 1945, vom Ende des Krieges abgesehen, einen solchen Sturm der Gefühle erlebt? Fremde Menschen liegen sich in den Armen, Tränen fließen, es wird gestammelt und gestottert. „Nicht zu fassen“ - das ist das Wort der Stunde. Ja, es ist nicht zu fassen, was sich da in Berlin und in den Städten der Bundesrepublik abspielt. Über Nacht hat sich dieses zweigeteilte Land verändert. Da sind Emotionen erlaubt, hüben wie drüben. Und ein bißchen Anarchie darf auch sein. Oder ist es nicht ein Segen, daß sich die Wiederan­näherung ohne feierliches Gedröhne vollzieht, ohne preußischen Stufenplan - streng nach zuvorausgehandelter Übereinkunft? Nur Klein­karierte können nicht begreifen, daß die Men­schen in der DDR jetzt einfach Dampfablassen wollen, nur Beckmesser regen sich darüber auf, daß die Ordnung vorübergehend aus den Fugen gerät.

Die deutsche Geschichte ist arm an Ereignis­sen, die des Feierns würdig sind. Hier ist eine Gelegenheit, und es ist eine Freude zu sehen, wie locker die Menschen diese historischen Tage durchleben. Da wird getanzt statt würdig dahergeschritten, da hagelt es Witze statt schwülstiger Reden, da wird gelacht statt pa­thetisch dreingeschaut. Die Deutschen, so kann man beruhigt feststellen, haben aus ihrer Ge­schichte gelernt. Auch das gehört zur politi­schen Analyse der großen Wende.

Wie geht es weiter? Der Bundespräsident hat in Berlin erklärt, jetzt gelte es, Gefühle und Gedanken zu ordnen. Niemand wisse zu sagen, was die Zukunft bringe. In der Tat: Hat die SED-Führung den Rubikon wirklich überschritten? Wie werden Bush und Gorbatschow bei ihrem Treffen vor Malta reagieren? Welche Möglichkeiten und Pflichten hat Bonn beim Aufbau einer neuen, anderen DDR? Am span­nendsten ist aber die Frage: Was wollen die Bürger von Köln bis Dresden, von Nürnberg bis Rostock? Die letzten Tage haben ja gezeigt, daß Deutschlandpolitik nicht länger eine aus­schließliche Domäne der Politiker ist.

Man kann eine ganz kühle Rechnung aufma­chen: Die Menschen in der DDR haben kein Geld, dafür haben sie einen unbändigen Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit. Die Gesell­schaft hierzulande ist reich - trotz aller Schwie­rigkeiten für Minderheiten. Soll die Revolution in der DDR nicht wieder versanden, brauchen wir mehr als ein gesamtdeutsches Ministerium. Jetzt muß gesamtdeutsch gedacht werden, vor allem in den Parteien. Man kann nur hoffen, daß das Hickhack zwischen dem Bundeskanz­ler und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin ein einmaliger Ausrutscher ist. Wort­klaubereien hat es in der Vergangenheit genug gegeben.

Gesamtdeutsch denken heißt: Es ist eine Aufgabe zu meistern, die nur mit dem Wieder­aufbau nach dem Krieg zu vergleichen ist. Diese Aufgabe beginnt jetzt. Sie verlangt Verzieht. Die Überwindung der Teilung ist nur unter dem Stichwort des Teilens zu haben. Sicher, der Kanzler hat recht, wenn er Bedin­gungen an Bonner Hilfen knüpft. Aber man sollte den Bogen nicht überspannen. Jahrzehn­telang flossen die Milliarden nach drüben, auch unter der konservativ-liberalen Regierung. Warum sollte man heute, da Investitionen wirk­lich etwas bewirken können, plötzlich kleinlich sein? Die DDR braucht umgehend unsere Un­terstützung und nicht erst, wenn sie sich zu einem demokratischen Musterstaat gemausert hat.

Das mag ein Risiko sein. Aber ist es nicht auch eine Chance? In der DDR liegen auf lange Sicht ungeahnte Möglichkeiten für die Wirt­schaft der Bundesrepublik. Nur ein Beispiel: die Besucher von drüben geben einen guten Teil des Begrüßungsgeldes hier wieder aus - die Geschäftsleute in den grenznahen Städten machten am Wochenende Geschäfte wie noch nie. 17 Millionen Menschen haben einen Nach­holbedarf mit noch ungeahnten Ausmaßen. Es wird nicht leicht sein, die Freude über den Zerfall des DDR-Systems mit der rauhen Wirk­lichkeit zu verbinden. Wird es ohne innenpoli­tische Verwerfung gelingen, eine große Koalition des guten Willens zu bilden? Werden die Deutschen nach dem Ende des Freudenfestes nüchtern ans Werk gehen?


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Gedanken zur Vorweihnachtszeit

Noch vier Wochen ...

1987 / Alle Jahre wieder bemängeln Kritiker den vorweihnachtlichen Kaufrausch, dem die Menschen in einer Zeit zu verfallen drohten, die doch zur christlichen Besinnung und zur Einkehr gedacht sei. Das Fest der Liebe sei zu einem Fest der Umsätze verkümmert, heißt es weiter. Die Massen drängten sich durch die Warenhäuser, während die Kirchen nur schwach besucht würden.

Es ist wieder soweit. Gesten, wurde der Christkindlesmarkt eröffnet, heute werden die Geschäfte gestürmt- das hoffen zumindest die Ladenbesitzer. Die Experten sagen zwar geringere Umsätze als im vergangenen Jahr voraus, doch das Treiben wird dennoch beängstigende Ausmaße annehmen.

Warum auch nicht? Das Schenken und das Beschenkt werden haben eine lange Tradition, die nicht nur bei uns und nicht nur an Weihnachten gepflegt wird. Obwohl die Bindungen an die Kirchen in unserer Zeit lockerer geworden sind und der Einfluß der sogenannten Amtskirchen auf das Alltagsleben abgenommen hat, ist die Bereitschaft, Weihnachten als besonderes Fest zu begehen, nicht gesunken. Anderen und sich eine Freude machen, gehört dazu.

Die meisten denken an den Nutzen des Geschenks ebenso wie an die Freude, die sie beim Beschenkten hervorrufen wollen. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß viele Erwachsene nicht nur einen Erwachsenen- Wunschzettel vor Augen haben, sondern auch jenen aus ihrer Kinderzeit?

Erinnert man sich an diese goldenen Jahre, erscheint alles in einem verklärenden Licht. Das Auge wird feucht im Rückblick auf jene bescheidenen Präsente, die man damals austauschte. Die selbstgestrickten Socken, das vom Vater gebastelte Vogelhäuschen erscheinen viel schöner als die gekauften Sachen, die sich heutzutage unterm Glitzerbaum türmen. Da ist manches Klischee im Spiel. Früher konnte man sieh eben keine üppigen Geschenke leisten, die Bescheidenheit war also vorgegeben. Heute wird diese Not zur Tugend stilisiert.

Die Kritiker am weihnachtlichen Rummel rümpfen gern die Nase über die Nutzlosigkeit vieler Geschenke. Dieser Rigorismus ist ärgerlich. Muß denn alles praktisch und verwertbar sein? Gerade das Überflüssige, ja der Tinnef, macht Freude. Übers Jahr sind die Menschen in ihrer Lebensplanung ernsthaft genug: Der Urlaub soll sich lohnen, das Essen im Restaurant muß seinen Preiswert sein, selbst der sonntägliche Ausflug ins Grüne wird präzise geplant. Man will was haben für sein Geld.

Da liegt es weiß Gott nahe, einmal über die Stränge zu schlagen. Wohlstand ist nicht zu verurteilen. Entscheidend ist doch, auch an jene zu denken, die im Schatten stehen. Das Gefühl der Solidarität war früher sicher stärker; man beschenkte auch Leute, die einem nicht besonders nahe standen. Heute werden Schecks ausgestellt. Das Spendenaufkommen der verschiedenen sozialen Organisationen geht in die Milliarden. Kurzum, die Deutschen sind keineswegs knausrig. Aber das Beschenken anderer ist nun anonym geworden.

Das mag damit zusammenhängen, daß die Menschen angeblich keine Zeit mehr für die persönliche Geste haben. Alles ist ja so „stressig“. Das Gejammere über die Anstrengungen der Weihnachtszeit gehört zum Ritual. Jedes Jahr wird es lauter. Dabei war es früher nicht leichter. Man erinnere sich nur an die wochenlangen Bäckereien, an den Hausputz und an die mühsamen Vorbereitungen für ein gelungenes Fest.

Es ist schwer, die Weihnachtszeit in den Gegensatz zwischen abendländischem Brauch-
Sehnsucht nach Ruhe tum und christlicher Tradition einzuordnen. Aber was ist eigentlich wichtig? Am Heiligen Abend soll sieh friedvolle Ruhe ausbreiten. Dann nämlich spricht niemand mehr vom Kaufzwang, und die Hetze der vorweihnachtlichen Zeit ist vergessen. Päckchen werden verteilt. Für einige Stunden ist die Welt in Ordnung.


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Vor dem Zusammenbruch der Verkehrspolitik?

In der Sackgasse

Die Autofahrer schimpfen auf die Radfahrer, die Radfahrer schimpfen auf die Autofahrer, die Fußgänger schimpfen auf beide. Die Städte jammern über den drohenden Verkehrsinfarkt, Experten malen Horrorszenarien, den Bürger beschleicht die Sorge, daß es so nicht weitergehen kann.

Die Entwicklung ist in der Tat unerfreulich. Kilometerlange Staus, Abgasmief in den Städten, zuwenig Parkplätze für zu viele Autos. Selbst Volvo-Chef Pehr Gyllenhammar prophezeite bereits das totale Chaos.

Ist die Lage wirklich so schlimm? Sicher, das Autofahren in den Städten wird mühsamer, aber verglichen mit Paris, Rom oder London ist es noch paradiesisch. Von einem Zusammenbruch sind wir noch weit entfernt. Warum also plötzlich wieder diese Aufgeregtheiten? Liegt es, wie fast alles heute, an der Wiedervereinigung? Das katastrophale Verkehrsnetz in der DDR, die Aufgabe jahrzehntelang Getrenntes wieder zu verbinden, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Zukunft des Verkehrssystems.

Zudem hat die unpassierbare Brücke hei Kufstein deutlich gemacht, wie grenzüberschreitend das Problem unterdessen ist. Durch das wirtschaftliche Zusammenwachsen Europas werden die Verkehrsströme beträchtlich wachsen. Der Kanaltunnel, der geplante Brennertunnel und das dänische Brückenprojekt, das Kopenhagen besser an den „Kontinent“ anbinden soll. sind Anzeichen der neuen Entwicklung. Die Wende in Osteuropa tut ein übriges.

Was ist, wenn Millionen neuer Autofahrer hinzukommen, wenn weitere Urlaubsströme sich gen Süden wälzen? Eines ist sicher: Deutschland wird wegen seiner zentralen Lage die Hauptlast tragen.

Bei der Diskussion um künftige Konzepte steht das Auto weiterhin im Mittelpunkt. Schon vor Jahren wurden seine Grenzen prophezeit. Das Gegenteil bewahrheitete sich. Die Zahl der Autos stieg und stieg. Mit gutem Grund. Das Auto ist immer noch ein attraktives Transportmittel, das mehr Flexibilität und Unabhängigkeit als jedes andere bietet. Auch sein Sozialprestige ist hoch. So werden die Autos immer teurer und schneller, obwohl sie nur selten „ausgefahren“ werden können.

Es ist daher ziemlich sinnlos, dem Auto mit dirigistischen Eingriffen zu Leibe zu rücken. Nicht die Verteufelung des Autos ist die Lösung, sondern eine bessere Abstimmung des Massen- und des Individualverkehrs. Kooperation zwischen Schiene und Straße, zwischen U-Bahn, Bus und Auto ist die einzige Möglichkeit.

Das ist schon oft gefordert worden, aber nur mühsam zu verwirklichen. Die Kosten sind gigantisch, zumal die Bahn nach dem Krieg völlig vernachlässigt wurde. Einige Schnellstrecken und die Renovierung von Prestige- Bahnhöfen sind da nur der Tropfen auf den heißen Stein. Auch der Nahverkehr- von Ausnahmen wie München abgesehen - liegt im argen.

Kein Wunder. daß viele Pendler dem Auto treu bleiben. Das Warten im Stau ist zwar auch kein Vergnügen, aber immer noch besser als die unzulänglichen öffentlichen Verkehrsmittel.

Freilich ist das Auto auch nicht von unbegrenzter Attraktivität. Geht die Entwicklung so weiter, könnte die Lust am Auto in Unlust umschlagen. Erste Anzeichen gibt es bereits.

Schier endlose Staus und die um sieh greifende Sperrung der Innenstädte verärgern immer mehr Menschen. Fast sieht es so aus, als sei das Auto am Ende. Doch es hat Zukunft, allerdings nur, wenn es Funktionsgerecht gestaltet und in ein vernetztes Verkehrssystem in einen Verkehrsverbund von Individual- und Massenverkehr eingebunden wird.

Diese notwendige Umstellung ist nur vergleichbar mit der Einstellung des Verkehrs im 19. Jahrhundert. Die Kosten und die gesellschaftlichen Veränderungen waren damals enorm. Das gilt auch heute. Der Verkehr gerät in die Sackgasse. Vielleicht bringt die politisch eränderte Lage den Durchbruch.


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Der Trend zum Gelaber - ein Kapitel Sprachkritik

Ich würde sagen wollen ...

„Wenn nicht alles täuscht, werden auch im kommenden Jahr wieder Problembündel ins Haus stehen, die, ich würde sagen wollen, nur vor Ort gelöst werden können.“ Wer sprach’s? Schmidt, Strauß oder Genscher? Weder noch. Der Satz ist ausgedacht, könnte aber aus aller drei Munde geflossen sein. Politisches Gelaber ist längst austauschbar. Viele von denen, die zu „denen da draußen im Lande“ sprechen, hören gar, nicht mehr, was sie sagen. Politische Sprache verkümmert zur Sprachlosigkeit, kann sich kaum noch artikulieren, es sei denn durch hohles Getön.

Man hat sich oft lustig gemacht über den dürftigen Wortschatz Konrad Adenauers. Aber welche Wohltat war diese sprachliche Kargheit im Vergleich zu den ‘monströsen Wortschöpfungen seiner politischen Zeitgenossen und ihrer Nachfolger! Man stelle sich „den Alten“ vor, wie er unbewegten Gesichts und mit rheinischem Akzent folgenden Satz spricht: „Meine Damen und Herren, die wachstumspolitischen Weichen dürfen erst gestellt werden, bevor ein strukturpolitischer Maßnahmenkatalog erstellt worden ist.“

Heute sind derartige Sprachungetüme gang und gäbe. Gelaber ist Trumpf. Da steht etwa die Frage im Raum (gelegentlich schwebt sie auch) nach der „sozialen Abfederung des Landvolkes“ (sollen die armen Bauern etwa gerupft werden?). Oder es werden „Rahmen aufgerissen“, bevor das „Machbare Platz greifen“ darf. Geradezu bedrohlich wird es, wenn der „Pillenknick an den Hochschulen, das Sommerloch am Arbeitsmarkt durchschlägt“. Gott sei Dank haben wir Genscher. Er verspricht, daß die Rüstungsspirale gestoppt wird (wie macht er das nur?). Ganz zu schweigen vom bayerischen Arbeitsminister Pirld, der in der Familienpolitik „Initialzündungen setzen“ will. Wie sagte doch Heuss? „Dann setzt mal schön!“ (Oder so ähnlich).

Des Schwafelns ist kein Ende, obwohl die „Modernisierung der Berufsstände unaufhaltsam voranschreitet“. Da kann man nur sagen: „Das ist doch Augenwischerei von links und rechts.“ Oder droht gar die „Aushebelung der Basis“? Dann aber nichts wie weg! Wie wär’s mit der „Anmietung“ einer Villa auf Mallorca. Dort könnte man doch dem „Kampf der Seelen der verlogenen Propaganda der Anhänger des Totalitarismus“ (Otto von Habsburg) entgehen. Zumindest aber den „anstehenden Sachzwängen“ der Tagespolitik. Ach, wäre das schön!

Dabei wollen wir „sprachmäßig“ keine „überbordenden Ansprüche“ stellen. Aber wir sind doch „in die Pflicht genommen“ darauf hinzuweisen, daß der „Stellenwert“ einer sauberen Ausdrucksweise nicht nur „systemimmanenten“ Bedürfnissen entspricht, sondern auch im Wissen um (!) die Verpflichtung zur deutschen Wiedervereinigung „unabdingbar“ ist. Nur so läßt sich der „Anschluß halten“ an die Strömungen und Kräfte in der Welt, die sich für eine am Generalnenner (Jawohl!) der Friedenssicherung (hier wird’s energiepolitisch) orientierten Politik einsetzen. Das heißt: „Global gesehen“ müssen wir die „ganze Breite der Argumente auffächern-, um „ausdrucksmäßig“ zu einer „Selbstverwirklichung“ zu kommen, die es verbietet, „auf dem falschen Bein hurra zu rufen“. Oder wollen wir etwa darauf verzichten, die ganze „Angebotspalette“ in das allumfassende Netz des „Bonner Atlantismus“ einzubinden? Da sei denn doch der Genitiv nach „trotz“ und „wegen“ davor! Sonst würde es ja „schwer halten“ das „Junktim zu entflechten“ oder gegebenenfalls zu „konterkarieren“.

Bleibt also nur die Möglichkeit, sich auf die „Verteilungsphilosophie“ des Staates hinsichtlich der „Zuwächse“ zu stützen. Sonst laufen wir Gefahr, den „Minimalkonsens“ nicht herstellen zu können, der doch in „Sachen“ Sprache „unabdingbar“ ist. Was „not tut“, ist das ständige „Hinterfragen“ des „sozialen Netzes“. Nur so können wir „unter Beweis stellen“, daß die „Inaussichtstellung“ zukunftsperspektivischer Angebotspaletten „fürderhin“ gewahrt bleibt.
Um nicht „zweigleisig“ verstanden zu werden (wir fahren hier ausdrücklich auf der „Südschiene“!), möchten wir lediglich darauf hinweisen, daß obenstehende Bemerkungen zur „Umverteilung“ an jene verstanden werden sollen, die das Gelaber zu ihrer Sprache gemacht haben.


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Schwierige Begriffsbestimmung

Wirklich arm?

Über den Begriff der Armut läßt sich lange streiten. Wer früher als ausreichend versorgt galt. kann heute zu den Armen zählen. Noch schwieriger wird es, wenn wir die Armut weltweit definieren wollen. Arme in Industriestaaten wie Amerika oder Rußland, Arme in der Sahelzone oder Bangladesch: die Bandbreite ist enorm, Vergleiche sind nicht möglich. Sicher ist nur: Gemessen an der Armut in diesen Ländern ist die Armut in Deutschland ein marginales Problem. Wer wollte allerdings leugnen, daß es hierzulande Menschen gibt, die nur mühsam über die Runden kommen. Da sind die alleinerziehenden Mütter, Rentner. Langzeitarbeitslose, vermehrt auch junge Leute, die sich irgendwie durchwursteln. Aber kann von wirklicher Armut gesprochen werden?

Da es keine offiziellen Statistiken gibt, ist die Zahl der Betroffenen nur zu schätzen. Dennoch wird immer wieder so getan, als oh Antut auf Punkt und Komma zu berechnen sei. Sogar Armutsforschung gibt es unterdes¬sen - eine unwissenschaftliche Disziplin, die wohl gerade deswegen besonders selbstbewußt daherkommt. So legte vor kurzem der DGB einen Bericht vor, der 1,2 Millionen Anne zählt. Das wären zweieinhalbmal so viele wie vor zwanzig Jahren.

Andererseits gibt es die Nachricht, daß die Zahl der Reichen gestiegen ist. Das muß kein Widerspruch sein. Die große Kluft zwischen Armen und Reichen ist in den USA längst als soziales Problem ersten Ranges erkannt. Auch in Ländern der Dritten Welt zerfallen die Gesellschaften in zwei Blöcke: hier eine relativ kleine wohlhabende Schicht aus Politik und

Wirtschaft, dort die Masse der Elenden, die krank und hungernd ihr Leben fristen.
Auch in der Bundesrepublik gibt es Tendenzen, über die nachzudenken ist. Die Wiedervereinigung hat zwei Systeme zusammengeführt, in denen viele Wohlhabende, aber auch sozial und wirtschaftlich Schwache leben. Das Schlagwort von der Zweidrittelgesellschaft beschreibt zwar nur unzulänglich die Lage, doch wir müssen aufpassen, daß der soziale Konsens erhalten bleibt.
Das hat aber nichts mit einer angeblichen Armutswelle zu tun. Schon vor Jahren hat der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister

Heiner Geißler behauptet, es gebe mindestens zwei Millionen Arme. Als die CM dann an die Regierung kam, war davon nicht mehr die Rede. Zu Recht, denn das Gerede über die Armut ist damals wie heute diffus und wenig hilfreich.
Unbestritten ist, daß die Ausgaben für die Sozialhilfe kräftig steigen.
Aber Sozialhilfeempfänger sind keine Armen, wenn man den Begriff der Armut nüchtern bewertet. Keiner, der staatliche Hilfen in Anspruch nimmt, muß hungern.

Für seine medizinische Betreuung ist gesorgt. Auch hat er in der Regel ein Dach über dem Kopf. Finanziell sieht die Situation etwa so aus: Ein Ehepaar mit zwei Kindern erhält im Schnitt 1.584 Mark, daneben rund 300 Mark für einmalige Leistungen wie etwa Kleidung. Für die Wohnung, so es eine gefunden hat, kommt die Gemeinde auf. Auch Heizung und Nebenkosten sind umsonst. Zusammengerechnet ergibt das etwa 3.000 Mark. Davon ist bescheiden zu leben.


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Frühzeitige Warnung vor dem Rechtsradikalismus

Aus Fehlern lernen

1979 / Wer heute auf die aufkeimende Gefahr des Rechtsradikalismus hinweist, gerät schnell in den Verdacht, vom Radikalismus linker Prägung ablenken zu wollen. Halten wir daher - um jede Unterstellung auszuschließen - fest: Die Gefahr von linker Seite ist, trotz einer momentanen Beruhigung, immer noch unvergleichlich größer als die der rechten Seile. Unbestreitbar ist vor allem, daß der Linksterror bereits auf furchtbare Weise aktiv wurde, während sich rechte Aktivitäten bisher eher im Verborgenen hielten. Dennoch ist nicht zu übersehen: Die Rechtsextremen machen sich immer mehr bemerkbar. Die Polizei hob in den vergangenen Wochen mehrere Waffenlager aus, in Berlin und anderen Städten kam es im Zusammenhang mit der Fernschserie „Holocaust“ zu neonazistischen und antisemitischen Kundgebungen, Flugblätter wurden verteilt. Protestmärsche organisiert.

Man sollte deswegen nicht in Panik verfallen. Aber es ist angebracht und muß erlaubt sein, die Entwicklung mit wachsanmen Auge zu verfolgen. Denn: Wer etwa vor zehn Jahren prophezeit hätte, daß Terroristen wenig später Politiker, Wirtschaftsführer und Juristen entführen und einorden würden, wäre wahrschein¬lich als Phantast abgestempelt worden. Es hat solche „Phantasten“ gegeben, ihre Mahnungen wurden allerdings in den Wind geschlagen. Als es dann soweit war, brach großes Entsetzen und noch größere Verwirrung aus. Und die Frage wurde laut (sie beschäftigt uns noch immer): Wie konnte es dazukommen? Stellen wir uns daher den hellen Aufschrei vor, wenn Rechtsradikale morgen mit dem Anschlag auf ein Menschenleben auf sich aufmerksam machen sollten. Auf die Gefahren von rechts hinzuweisen, heißt also nicht, den Linksradi¬kalismus verharmlosen, sondern aus Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit lernen zu wollen.

Trotz aller Unterschiede zwischen Links- und Rechtsradikalismus gibt es nämlich durch¬aus Gemeinsamkeiten. Beide „Bewegungen“ sind Ausdruck eines Protestes gegen die derzeitigen Machtverhältnisse in der Bundesrepublik, beide Bewegungen richten sich gegen Staat und Gesellschaft, beide wünschen die radikale Veränderung. Und beide werden von jungen Menschen getragen. Das Argument, bei den Rechtsradikalen handele es sieh lediglich um ein paar ewig Gestrige und Unbelehrbare, trifft nämlich längst nicht mehr zu. Die einstige Hoffnung, der Neonazismus werde sich schon auf „biologische“ Weise lösen, hat sich nicht erfüllt. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Je mehr das Dritte Reich Vergangenheit wird - und da kann auch die Erinnerung an den Holocaust nicht helfen - desto unbefange¬ner scheinen viele dem Problem des Nationalsozialismusgegenüberzustehen.

Wenn der Rechtsradikalismus bisher mitaufsehenerregenden Gewalttaten noch nicht hervortrat, so mag das daran liegen, daß ihm geistige Führerschaft fehlt. Seine Anhängerschaft setzt sich in der Mehrzahl aus Leuten zusammen, die sich noch schwer damit tun, ihr „Gedankengut“ intellektuell unter die Menge zu bringen. Noch beschränkt sie sich auf Radau und Spektakel.

Das muß aber nicht so bleiben. Denn auch der Linksradikalismus hat einmal mit der „Aktion“, dem „sit-in“, dem politischen Happening begonnen. Bis eines Tages die Meinhof, Baader, Ensslin. Cohn-Bendit usw. der Bewegung den „geistigen“ Unterbau lieferten, die damit auch für diejenigen attraktiv wurde, die sich selbst nicht direkt engagieren wollten, aber das gefährliche Spektrum der Sympathisanten bildeten.

Unsere Aufgabe ist es also, den Gründen nachzuspüren, die junge Menschen auf den Weg der Verirrung bringen. Denn niemand ist geboren worden, um später Neo-Nationalso¬zialist zu werden, niemand kommt als Aus¬geburt des Bösen zur Welt.

Anm. d. Red.: Im Jahr 1979 haben viele solchen Gedankengängen noch nicht folgenn wollen - bis dann später die Gewalt von rechts traurige Realität wurde.


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Über den Journalismus des Alexander Rhomberg


Die 1970er und 1980er Jahre, dann der Beginn des politischen Umbruchs nach der „Wende“: Zwei Jahrzehnte Zeitgeschichte, widergespiegelt in Kommentaren, Glossen und Reportagen von Alexander Rhomberg.

Keine kurzlebigen Artikel aus dem üblichen Zeitungs-Tagesgeschäft, sondern zeitlos Bedenkliches, oft genug verblüffend Prophetisches und immer wieder Amüsantes am Rande.

Die Themen des Journalisten Alexander Rhomberg reichen dabei von Richard von Weizsäcker bis Melina Mercouri, vom Einsatz für Minderheiten, bis zum eleganten Spott über die Torheiten unserer Zeit.

Geschrieben von Alexander Rhomberg mit „Sprachgefühl und Sprachzucht, Unbestechlichkeit des Blickes und Genauigkeit des Ausdrucks“

Prof Dr. Günther Pflug (Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache).


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Nach Redaktionsschluß

Gruß an einen Kollegen

Nichts war ihm fremder als Pathos der falschen Art - das konnte ich feststellen nach der Lektüre seiner Artikel, die in diesem Band leider nur in einer Auswahl in Erinnerung gerufen werden können. Pathos: nein, das war seine Sache nicht. wie man unter anderem seiner Reportage über die Beisetzungsfteirlichkeiten für Franz Josef Strauß entnehmen kann. Da ist - bei allein Respekt vor der zu ehrenden Person - doch viel Gespür zu erfahren für die Zwischentöne, für den Unterschied zwischen echter und zur Schau getragener Trauer. Und dies ausgerechnet in einem vermeintlich „konservativen“ Blatt, der „Nürnberger Zeitung“.

Kompliment Kollege! Komplimente auch für die Vielfalt der Themen und des über den Tag hinausreichenden analytischen Denkens: Schon im Jahre 1979 vorherzusagen, daß nach dein linksradikalen Terror auch die Rechtsradikalen eine Blutspur in Deutschland zeichnen werden - das war wahrhaft selten damals. Journalistische Prophetie. die sich auch in anderen Fällen bewahrheiten sollte.

Ich habe Alexander Rhomberg persönlich leider nicht gekannt. Wach Redaktionsschluß dieses Buches, das einen Querschnitt gibt durch die Klaviatur unseres Gewerbes. die er auf allen Tasten souverän beherrschte -jenseits der Fachbeschränkung und der langweiligen „Ausgewogenheit“ -, weiß ich mehr über ihn und bin im Zweifel, ob dieses Verständnis von Journalismus wohl noch eine Zukunft hat. Das ist schon wieder ein Kompliment, Kollege Rhomberg.

Nicht, daß wir uns mißverstehen! Dem einen oder anderen politischen Beitrag hätte ich heftig widersprochen, wäre ich damals in Ihrer Redaktionskonferenz gewesen. Daraufhin hätten Sie mir vermutlich pointiert entgegnet. Mit scharfem Witz, wie ich Ihren Glossen nachträglich entnehmen kann.

Ja, gerne hätte ich mit Ihnen gestritten und gelacht. (Anmerkung Ihrerseits, stelle ich mir vor: Viel zu pathetisch!)

Rüdiger Schablinski


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- Erstellung durch Arno Loeb, SoSo-Verlag.
- Wir bedanken uns für die ehrenamtliche Mitarbeit von Dieter Auer.